Helmut Schmidt Was für ein Mensch!

Helmut Schmidt im Jahr 1982: Politiker und Staatsmann.
Bei diesem Abschied müssen wir vor allem uns Überlebende betrauern. Die Welt ohne den Welterklärer Schmidt hat sich in einen zugigen Ort verwandelt. Wenn Leben Verstehen bedeutet, dann hat auch unser Licht zu flackern begonnen.
Es wäre untertrieben zu sagen, der Verstorbene habe ein erfülltes Leben gelebt. In Wahrheit waren es mindestens drei in einem. Er war Politiker, Staatsmann und Publizist. Mensch war er auch. Und was für einer!
Vielleicht ist sogar sein leidenschaftliches Mensch-Sein der Schlüssel zu allen anderen Erfolgen. Schmidt besaß die Gabe des Zuhörens und des Staunens. Neuigkeiten erschöpften ihn nicht, sie luden ihn auf. Selbst uns Journalisten, die er einst als „Wegelagerer“ bezeichnet hatte, lernte er mit den Jahren schätzen. Er wurde nach den Kanzlerjahren nicht Berater, auch nicht Lobbyist oder politisierender Griesgram. Er wurde Publizist.

Gabor Steingart
Gerade als Herausgeber der „Zeit“ pflegte er das, was er lange zuvor begonnen hatte: das Gespräch mit seinen Landsleuten. Der typische Schmidt-Ton war deutlich, oft scharf und ironisch, zuweilen spitzbübisch, und dennoch war da immer ein milder Unterton, der wärmte. „Schmidt Schnauze“ hat man ihn in seinen jungen Abgeordnetenjahren genannt. Es handelte sich um eine Schnauze, die an Herz und Hirn angeschlossen war.
Dieser Schmidt sprach mit seinen Deutschen über die Politik, übers Kettenrauchen, über diesen „Scheißkrieg“, wie er sich ausdrückte, und schließlich – als 96-Jähriger – sogar über das Fremdgehen: „Ich hatte eine Beziehung zu einer anderen Frau“, beichtete Schmidt der Nation nach 68 Ehejahren mit seiner Loki.
So konnte nur einer reden, der Mensch, nicht Engel war, mit allem, was das bedeutete, wenn man in das Jahr 1918 hineingeboren war: Nazi-Verführter, Kriegsteilnehmer, Kriegsverletzter, schließlich Europäer aus Scham und Überzeugung. Geschichte vergeht nicht, war seine Überzeugung, weshalb er auch in der Nachkriegs-SPD und nicht bei den Nachkriegskonservativen vom Schlage Strauß, Filbinger, Dregger seine Heimat fand.
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Schmidt war von früh auf das, was man einen Internationalisten nennt. Unermüdlich und zur Not eben im Rollstuhl bereiste er die USA, den Nahen Osten und immer wieder China, um sich selbst ein Bild von den Verhältnissen zu machen.
Zu China entwickelte der Weltkriegs-Oberleutnant Schmidt ein fast zärtliches Verhältnis. Er weigerte sich – wie auch sein Freund und Weggefährte Henry Kissinger – diese Weltmacht im Werden dafür zu tadeln, dass sie anders war als wir. Den Satz des Historikers Samuel Huntington, dass die westliche Kultur einzigartig, aber nicht universell sei, hat er nicht nur geteilt, er hat ihn gelebt. Andere riefen „Menschenrechtsverletzungen“, Schmidt sah die durch Wohlstand und Wachstum möglich gewordene Menschwerdung. Andere schimpften auf die Parteiendiktatur, Schmidt lobte deren Führungsleistung.
Das gedankliche Erbe des Helmut Schmidt ist reichhaltig; doch man hat Zweifel, ob die heutige SPD willens und in der Lage ist, es für sich zu nutzen. Die praktische Vernunft und die Prinzipien der Realpolitik, denen sich Schmidt verpflichtet fühlte, taugen nicht, um den nächsten Parteitag anzuheizen oder das Talkshow-Duell für sich zu entscheiden.