Hilfspaket für die Wirtschaft 621 Milliarden Euro auf Halde – Warum die Corona-Gelder liegen bleiben

Bei allen Problemen, etwa im stationären Einzelhandel: Die ganz große Pleitewelle ist ausgeblieben.
Berlin Die Bazooka war schussbereit, nur auslösen wollte sie so recht niemand. Die Bundesregierung legte ein Rettungsprogramm in nie da gewesener Höhe mit Zusagen von insgesamt mehr als einer Billion Euro auf, um sich gegen die erwarteten wirtschaftlichen Verwerfungen der Coronakrise zu stemmen. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) bezeichnete die Maßnahmen als „Bazooka“, mit „Wumms“ wollte er die Krise abschütteln.
Eineinhalb Jahre später steht mit Blick auf die Abrufzahlen bei den Corona-Hilfsprogrammen fest: Die Bazooka musste viel seltener feuern als befürchtet. Das traf insbesondere auf den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) zu, den die Bundesregierung für besonders von der Krise gebeutelte Konzerne aufgelegt hatte.
Das Volumen: 600 Milliarden Euro für direkte Staatseinstiege oder Absicherungen von Krediten. Die Lufthansa etwa wurde über den WSF gerettet – ist aber ein Ausnahmefall geblieben.
Gerade einmal 1,45 Prozent aus dem WSF wurden abgerufen. 43 Unternehmen hatten eine Ausschüttung beantragt, 21 haben bisher eine erhalten. Gerechnet hatte das Bundeswirtschaftsministerium mit einer fünfstelligen Anzahl an Anträgen, wie aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP hervorgeht, die dem Handelsblatt vorliegt.
So extrem wie beim WSF ging es bei den anderen Kriseninstrumenten nicht zu. Der Trend ist jedoch der gleiche: Ein signifikanter Anteil der Unternehmen ist auch so gut durch die Krise gekommen – und die befürchtete Insolvenzwelle ist ausgeblieben.
Nach Handelsblatt-Berechnungen wurden von den übrigen Hilfsprogrammen der Bundesregierung wie den Überbrückungshilfen bisher nur 64 Prozent der zugesagten Mittel abgerufen. Fast 30 von insgesamt 82 Milliarden Euro sind somit liegen geblieben. Addiert man die bislang nicht genutzten Mittel des WSF hinzu, liegen demnach 621 Milliarden Euro Staatshilfen auf Halde.
Auch die von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) vergebenen Sonderkredite und Liquiditätsmaßnahmen, für die grundsätzlich keine Deckelung vorgesehen ist, bewegen sich mit einem Gesamtvolumen von aktuell rund 67 beantragten Hilfen und 53 Milliarden ausgezahlten Euro unter den Erwartungen.
„Vielen Unternehmen geht es weitaus weniger schlecht als erwartet“, sagt Justus Haucap, Direktor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie (DICE). „Manche hatten geschäftlich sogar ein Bombenjahr.“
Wenig Nachfrage nach Coronahilfen
Selbst über lange Zeit krisengebeutelte Branchen greifen wenig auf die Hilfen zurück. Das zeigt sich etwa an der Überbrückungshilfe III, mit der die Bundesregierung Firmen helfen wollte, die seit Ende 2020 unter Umsatzausfällen gelitten haben.
Nicht einmal die Hälfte der Kinobetreiber beantragte die Hilfen, obwohl die Säle im gesamten Förderzeitraum seit November leer bleiben mussten, zeigen Statistiken aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Eine vergleichbare Quote von Anträgen kam von Friseur- und Kosmetiksalons – auch sie hatten monatelang geschlossen. Von den Reiseveranstaltern wurden trotz Reiseflaute weniger als 40 Prozent vorstellig.
Hat sich die Bundesregierung verschätzt, waren die Hilfszusagen maßlos übertrieben? Fest steht einerseits: Um lediglich fast fünf Prozent ist das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2020 eingebrochen. Damit gehört die Bundesrepublik zu den weniger hart getroffenen Nationen im Euro-Raum, wo der durchschnittliche BIP-Rückgang bei 6,3 Prozent lag. Andererseits sorgten die üppigen Zusagen aber auch für eine gewisse Entspannung am Bankenmarkt.
Die Existenz des WSF etwa führte dazu, dass manch großes Unternehmen nicht mit ebenjenem WSF gerettet werden musste, heißt es in Regierungskreisen. Privatbanken halfen Unternehmen trotz angespannter Liquiditätslage mit Krediten.
„Es war wichtig und richtig, die Programme gut und umfassend auszustatten, um das klare Signal der ausreichenden Mittelausstattung und Stabilisierung in den Markt zu senden“, erklärt eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums.
Dass Gelder noch vorhanden sind, sei ein gutes Zeichen dafür, dass die Wirtschaft in diesem Jahr wieder angelaufen sei. Probleme bei den Auszahlungen und mangelnde Informationen seien als Grund für die geringe Nachfrage zu vernachlässigen.
Gute Ausgangslage bewahrte vor zu harter Krisenreaktion
Der wohl wichtigste Grund für die Krisenresistenz dürften aber weniger die politischen Maßnahmen sein. Es gebe viele Gründe für die geringen Abrufzahlen, sagt FDP-Wirtschaftspolitiker Reinhard Houben. Etwa, dass die Programme schlecht auf die Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt gewesen seien.
„Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich viele Unternehmen überraschend widerstandsfähig erwiesen haben und deswegen glimpflich aus der Krise gekommen sind“, sagt Houben. Das zeige insbesondere die Eigenkapitalquote – das anteilige Maß der eigenen finanziellen Mittel am Gesamtkapital.
Die Eigenkapitalquote gilt als elementar für die Robustheit der Wirtschaft, weil sie die Kreditwürdigkeit der Unternehmen erheblich beeinflusst. Ende der 1990er-Jahre, als Deutschland „der kranke Mann Europas“ war, lag die Quote noch bei rund 20 Prozent – und damit kaum halb so hoch wie etwa in Dänemark. Das Platzen der New-Economy-Blase traf Deutschland kurz darauf überdurchschnittlich stark.
Im Zuge des Aufholprozesses der deutschen Wirtschaft steigerte sich auch die Eigenkapitalquote, sodass die Bundesrepublik schon in der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 besser aufgestellt war. Bis Ende 2019 kletterte der deutsche Eigenkapitalanteil laut Ifo-Institut auf 45 Prozent. Der Abstand gegenüber Dänemark betrug nur noch fünf Punkte.
Einige Unternehmen habe die Krise hart getroffen, wodurch die Hilfen von immenser Bedeutung seien, hatte der Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands, Helmut Schleweis, vor einiger Zeit erklärt. Aber: „Die meisten Unternehmen werden die Krise meistern, weil sie hohe Liquiditätspuffer und Eigenkapitalbestände aufgebaut haben.“
Das nimmt auch die Sorge vor einer Pleitewelle nach einem Ende der Staatshilfen. Denn die Situation beim Eigenkapital in der Unternehmenslandschaft hat sich kaum verschlechtert. In einer KfW-Studie berichtet die Hälfte der Firmen über gleich gebliebene Quoten, 17 Prozent berichten über einen Anstieg. „Ich halte das Ausmaß für mögliche zusätzliche Insolvenzen für begrenzt“, sagt KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib.
Das bestätigt auch der Blick auf die Statistik. Zwar steigen seit Juni die Anträge auf Unternehmensinsolvenz. Das dürfte vor allem mit der Insolvenzantragspflicht zusammenhängen, die bis zum 30. April für jene Unternehmen ausgesetzt war, die bestimmte Unterstützungsmittel bis dato noch nicht erhalten hatten. Für alle anderen Firmen war die Aussetzung Ende 2020 beendet worden.
Doch von einem sprunghaften Anstieg kann keine Rede sein. Im Juli lag die Anzahl an Insolvenzen nur leicht höher als im Vormonat, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag mitteilte. Damit bewegt man sich um mehr als ein Viertel unter dem Niveau des gleichen Zeitraums 2019.
„Die Insolvenzzahlen werden schon noch über das Vorkrisenniveau steigen“, sagt Ökonom Haucap. Spätestens mit dem Ende der Coronahilfen sei damit zu rechnen. „Eine Pleitewelle ist aber realitätsfern, denn so viele Unternehmen hängen eben nicht am Tropf des Staates“, schätzt Haucap.
Ökonomen warnen vor Wettbewerbsverzerrung durch Coronahilfen
Finanzminister Scholz und der scheidende Wirtschaftsminister Peter Altmaier hatten sich zuletzt darauf verständigt, die Überbrückungshilfe für in Not geratene Unternehmen und den vereinfachten Zugang zum Kurzarbeitergeld ein weiteres Mal zu verlängern. Das hatte ihnen Kritik eingebracht.
„Die Insolvenzstatistik zeigt, dass die befürchtete Insolvenzwelle vermieden wurde“, sagt Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Jetzt müssten daher die verzerrenden Auswirkungen in den Blick genommen werden.
Die Minister konterten mit dem Hinweis, dass nur Unternehmen mit entsprechendem Nachweis ihrer Umsatzeinbrüche die Zuschüsse erhalten würden.
„Das ist aber nicht immer gelungen, und mittlerweile entstehen diese Einbrüche auch durch den Strukturwandel in der Wirtschaft“, bemängelt Wambach. Wenn wegen des Corona-Lockdowns der Einzelhandelsumsatz in den Innenstädten einbreche und ein Teil der Kunden auch danach auf Dauer dem Onlineshopping treu bleibe, könne der Staat nicht ewig notleidende Einzelhändler unterstützen.
Dass die scheidende Bundesregierung während des Wahlkampfs nicht das Ende der Hilfen beschlossen habe, sei wenig überraschend. Umso dringlicher sei es nun für die kommende Regierung, das Thema anzugehen.
„Ansonsten führen die Wettbewerbsverzerrungen auch zu langfristigen Problemen“, erklärt Haucap. Beispielsweise könne sich der Fachkräftemangel in Zukunftsbranchen verstärken, weil Erwerbstätige durch die Coronahilfen in Betrieben ohne Zukunft gehalten würden.
Zum Jahresende laufen die Krisenmaßnahmen nun aus. Es ist fraglich, ob bis dahin schon eine neue Regierungskoalition steht. Sollte dem so sein, wäre ihre erste Aufgabe mit Blick auf die Coronahilfen: nichts zu tun. Da sind sich die Experten einig.
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Hat da nicht jemand Milliarden mit Millionen verwechselt?