Humanitäre Krise an der EU-Grenze Asylrechtler Daniel Thym: „Das Recht ist nur noch lästiges Beiwerk“

Sicherheitskräfte gehen rigoros vor.
Berlin Im griechisch-türkischen Grenzgebiet stehen sich Grenzer und Polizisten beider Seiten gegenüber – eingepfercht dazwischen Asylsuchende, die nicht in die EU dürfen, denen aber auch der Rückweg in die Türkei versperrt ist. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan habe diese Menschen zum „Spielball“ in seinem geopolitischen Spiel gemacht und versuche, die EU zu erpressen, kritisiert Daniel Thym, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz. Und die EU wolle um jeden Preis ihre Grenze schützen und lasse das Recht zum „lästigen Beiwerk“ verkommen.
Der Asylrechtler, der auch stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration ist, sieht allerdings kaum einen anderen Ausweg, als dass sich beide Seiten wieder an einen Tisch setzen und das EU-Türkei-Abkommen reaktivieren.
Deutschland könnte zwar zusammen mit anderen EU-Staaten die Schutzbedürftigsten unter den Flüchtlingen, also vor allem Kinder, aufnehmen. Dies allerdings wäre kaum mehr als der berühmte „Tropfen auf dem heißen Stein“ und entbinde nicht von der Notwendigkeit, zu einer politischen Gesamtlösung zu kommen.
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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Griechenland als den „Schild Europas“ bezeichnet. Was denken Sie, wenn Sie das hören?
Die Formulierung zeigt, dass der Grenzschutz ganz in den Vordergrund getreten ist und über das Recht niemand mehr redet. Der Innenministerrat hat ganz ähnlich formuliert und gesagt, wir machen alles, was nötig ist, um die Grenzen zu schützen. Das erinnert an Mario Draghi …
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… den ehemaligen Chef der Europäischen Zentralbank, der gesagt hat, die EZB werde alles tun, um den Euro zu retten. „Whatever it takes“ …
Genau, nur dass es jetzt darum geht, die Grenze zu schützen. Das Recht ist da nur noch lästiges Beiwerk.
Welche Maßnahmen gibt es denn? Wird bald auf Flüchtlinge geschossen werden?
Geschossen wird im Regelfall sicher nicht. Aber die griechische Regierung hat die Grenzen fest verriegelt und meint auch, dass das rechtens ist – und damit auch der Einsatz von Wasserwerfern oder Tränengas.
Ist es denn rechtens, einfach einen Monat lang keine Asylanträge mehr anzunehmen?
So radikal und so einfach, wie Griechenland das derzeit macht, sicher nicht. Denn in den europäischen Asylrichtlinien steht Schwarz auf Weiß drin, dass man an der Grenze Asyl beantragen können muss. Das bedeutet nicht, dass jetzt alle Zäune niederzureißen sind, aber es muss eine realistische Option geben, in einem überschaubaren Zeitraum irgendwo Asyl zu beantragen.
„Die EU will sich nicht erpressen lassen“
Haben Sie denn Verständnis für die griechische Reaktion?
Politisch kann ich das in einem gewissen Grad nachvollziehen, weil der türkische Präsident Erdogan die Flüchtlinge als Spielball in seinem geopolitischen Spiel benutzt. Da fühlt sich Griechenland, das historisch ohnehin ein schwieriges Verhältnis zur Türkei hat, natürlich herausgefordert.
Moria und andere Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln sind schon seit Monaten hoffnungslos überfüllt. Haben die übrigen EU-Staaten Griechenland zu lange allein gelassen?
Die EU hat durchaus viel gemacht, Geld gegeben, Verwaltungsressourcen zur Verfügung gestellt. Aber die griechischen Behörden waren wegen einer Mischung aus fehlendem politischem Willen und mangelnder administrativer Kapazität nicht in der Lage, auf den Inseln für vernünftige Unterbringung und schnelle Asylverfahren zu sorgen. Die neue Regierung hat da viel getan, wird aber jetzt von der Entwicklung überrollt.
Glauben Sie, dass das EU-Türkei-Abkommen gerettet werden kann?
Aktuell funktioniert es nicht, aber das liegt auch daran, dass die Vorteile, die die Türkei in der Vergangenheit aus dem Abkommen gezogen hat, auslaufen. Da reden wir vor allem über die finanzielle Hilfe, denn aus der Zusage, bei den EU-Beitrittsverhandlungen oder der Visumsfreiheit voranzukommen, ist ohnehin nichts geworden. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Logik, wenn Erdogan nun neue Forderungen stellt. Aber die Art und Weise macht es der EU schwierig bis unmöglich, da ein Arrangement zu finden.

„Es entbehrt es nicht einer gewissen Logik, wenn Erdogan nun neue Forderungen stellt.“
Weil sie sich nicht von Erdogan erpressen lassen kann?
Genau, die EU will sich nicht erpressen lassen. Aber darunter leiden die Menschen, und das Recht droht dabei unter die Räder zu kommen. Der einzige Ausweg ist, dass sich beide Seiten wieder an einen Tisch setzen.
Gibt es überhaupt eine Alternative dazu?
Die Alternative sehen wir derzeit – und das ist die griechische Grenzschließung. Jetzt sieht man auch, dass der EU-Türkei-Pakt kein ganz und gar unmenschliches Abkommen ist. Denn es umfasst ein Kontingent, damit Menschen aus der Türkei legal in die EU einreisen, und bietet den Syrern in der Türkei eine Lebensperspektive.
Aber die legale Einreise aus der Türkei funktioniert doch kaum.
Die ursprüngliche Idee war, dass man Menschen, die es illegal aus der Türkei nach Griechenland schaffen, zurückschickt, und dafür Syrer aus der Türkei in die EU einreisen lässt. Das hat nie in größerem Ausmaß funktioniert, aber auch nicht weiter gestört. Denn die Türkei hat ihr Geld bekommen und die EU sinkende Flüchtlingszahlen. Außerdem hat die EU mehr als 20.000 Flüchtlinge legal aus der Türkei einreisen lassen.
140 Kommunen haben sich bereit erklärt, sofort 500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus den griechischen Lagern aufzunehmen. Warum kann da nicht schnell gehandelt werden?
Wenn man will, kann man das sicherlich. Die Frage ist nur, was es am Ende bringt. Eine Aufnahme würde ein Zeichen setzen, das Grenzschließungen nur das eine sind, man aber auch den Menschen helfen will. Das ist aber vor allem eine symbolische Geste, die an der Situation an der türkisch-griechischen Grenze allerdings wenig ändern würde. Denn es wird ja nicht darüber diskutiert, Menschen einreisen zu lassen, die an der Grenze warten, sondern es geht um Menschen, die seit vielen Monaten in Griechenland sind.
Die Politik fürchtet einen Pull-Faktor: Wenn Deutschland ein Flüchtlingskontingent aufnimmt, machen sich gleich weitere Asylsuchende zur türkisch-griechischen Grenze auf. Sehen Sie diese Gefahr nicht?
Doch, die Sorge ist berechtigt. Aber bei richtiger politischer Einbettung kann man verhindern, dass Pull-Effekte entstehen. Etwa, indem man besonders schutzbedürftige Flüchtlinge nicht aus Griechenland, sondern aus der Türkei oder – wenn es geht – sogar aus Syrien selbst aufnimmt. Dann wird nicht der Anreiz geschaffen, die Außengrenze der EU zu überwinden, um nach Deutschland zu kommen.
Die Zahl der Asylanträge in Deutschland lag 2019 mit rund 147.000 deutlich unter der vereinbarten „Obergrenze“ von 200.000. Wäre da nicht Luft nach oben für die Aufnahme weiterer Flüchtlinge?
Die 200.000 waren immer eine politische Zahl, die nicht auf wissenschaftlichen Annahmen beruht. Aber entscheidend ist jetzt nicht, ob 5.000 oder 10.000 Leute mehr oder weniger kommen. Entscheidend ist, dass wir eine vernünftige politische Gesamtlösung bekommen. Sonst ist die Aufnahme eines Kontingents der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein, der verdampft.
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