Immunisierung Biontech-Impfstoff wird rein europäisch

Auch die Komponenten für den mRNA-Impfstoff sollen künftig aus der EU kommen.
Brüssel, Berlin, Düsseldorf Zögerlich, zerstritten, glücklos: So wirkte Europa in der Pandemie zuletzt. Der Vertrag mit Astra-Zeneca hat Schwächen, die Knappheit führt zu Streit, Lieferungen fallen aus. Nun mehren sich aber die Zeichen der Hoffnung.
Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch vor die Presse trat, konnte sie nicht nur verkünden, dass das deutsch-amerikanische Impfstoffgespann Biontech/Pfizer 50 Millionen Dosen ein halbes Jahr früher liefert als geplant.
Sie konnte auch darauf verweisen, dass in der EU nun 100 Millionen Impfungen verabreicht wurden. Das Impftempo hat sich im zweiten Quartal deutlich erhöht und wird weiter steigen.
Langfristig ist eine andere Nachricht aber noch wichtiger: Die EU will bei der Impfstoffproduktion nicht mehr auf kritische Vorprodukte von außerhalb ihrer Grenzen angewiesen sein. 1,8 Milliarden Dosen will sie von Biontech/Pfizer in den Jahren 2022 und 2023 beziehen. Alle essenziellen Bestandteile sollen dabei aus der EU kommen.
Das ist wichtig, weil die EU ihre Abhängigkeit von anderen Staaten schon schmerzhaft erleben musste: Als sie feststellte, dass Astra-Zeneca die EU nachrangig beliefert, zögerte sie lange damit, Exportbeschränkungen zu erlassen. Obwohl das Unternehmen seinen Vertrag nicht erfüllte, verschickte es Impfstoffe aus der EU in andere Länder.
Wenn sie das unterbindet, so fürchtete die EU, könnte dies einen Handelsstreit um Impfstoffe und Vorprodukte auslösen, der die Produktion weiter verlangsamen könnte. Bei den feinen Fetttröpfchen, die für mRNA-Impfstoffe notwendig sind, und bei den Plastiktüten, in denen sie herangezüchtet werden, waren die europäischen Hersteller auf Importe angewiesen.
Großbritannien und die USA, die beide in großem Maßstab Impfstoffe produzieren, haben bislang keine einzige Dosis exportiert. Europäische Hersteller lieferten schon zig Millionen Dosen ins Ausland – vor allem nach Großbritannien.
Der Vertrag über die 1,8 Milliarden Dosen, den die EU-Kommission nun mit Biontech/Pfizer verhandelt, wäre ein großer Schritt zu einer autarken Impfstoff-Produktion. „Wir ziehen nun die Lehren aus der ersten Phase unserer Antworten auf die Pandemie“, sagte von der Leyen.
Zudem will die EU künftig monatliche Lieferungen festschreiben und damit von den bisherigen Quartalszusagen loskommen. Das würde die Planungen in den Mitgliedstaaten erleichtern.
Die Bestellung für die kommenden Jahre ist notwendig, weil nicht klar ist, wie lange der Schutz einer Impfung anhält. Möglich ist, dass man die Impfung immer wieder auffrischen muss. Außerdem sind Mutationen des Virus wie die brasilianische P.1-Variante in der Lage, auch geimpfte Personen zu infizieren.
Die mRNA-Impfstoffe wie der von Biontech sollen sich relativ leicht an solche Varianten anpassen lassen. Das gilt auch für den Impfstoff von Moderna, von dem bislang eher kleine Mengen geliefert werden, und vom Curevac-Impfstoff. Die Ergebnisse der entscheidenden Phase-drei-Studie für den Curevac-Impfstoff werden für kommende Woche erwartet.
Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach forderte im „Spiegel“, mit einer Zulassung nicht auf die Ema zu warten.
Auch Moderna will seine Produktion ausbauen. Dieses Jahr liefert das Unternehmen bisherigen Vereinbarungen zufolge 310 Millionen Dosen in die EU. Weitere 150 Millionen stellte das Unternehmen am Mittwoch auf einem Call mit Investoren in Aussicht. Das Unternehmen hat seine Produktionsplanung kontinuierlich nach oben geschraubt, auf inzwischen mindestens 700 Millionen bis eine Milliarde Dosen im laufenden Jahr.
„Im nächsten Jahr wollen wir mindestens 1,4 Milliarden Dosen liefern“, sagte Moderna-Europa-Chef Dan Staner dem Handelsblatt. Eine kurzfristige Lieferung weiterer Dosen sei allerdings nicht möglich. „mRNA-Produktionslinien aufzubauen dauert Monate“, sagte Staner. Für Moderna ist das Covid-Vakzin bisher das einzige Produkt auf dem Markt.
Dank des Impfstoffs hat der Konzern 2020 seinen Umsatz von 60 auf 803 Millionen Dollar vervielfacht. Davon wurden allein 571 Millionen im letzten Quartal erzielt – vor allem durch Lieferverträge für den Impfstoff. In diesem Jahr summieren sich die bisher abgeschlossenen Lieferverträge für den Impfstoff bereits auf einen Umsatz von 18,4 Milliarden Dollar.
Das Ziel scheint erreichbar
Die EU-Kommission hatte sich das Ziel gesetzt, bis Ende September 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung geimpft zu haben. Dass sie es früher erreicht, ist nicht ausgeschlossen. „Je schneller wir unser Ziel erreichen, desto bessere Chancen haben wir, das Virus einzudämmen“, sagte von der Leyen.
Einberechnet in den erwarteten Lieferumfang sind weiterhin die 55 Millionen Dosen von Johnson & Johnson, deren Auslieferung das Unternehmen stoppte, nachdem die USA die Impfungen wegen möglicher Nebenwirkungen ausgesetzt hatten.
Die Europäische Arzneimittelagentur (Ema) erwartet aber nicht, dass sie nach Prüfung der bekannten Fälle von dem Mittel abraten wird. Am Mittwoch bekräftigte sie dies: „Die Ema bleibt der Ansicht, dass der Nutzen des Impfstoffs die Risiken von Nebenwirkungen überwiegt“, hieß es in einer Mitteilung.
Die Nebenwirkungen ähneln denen beim Impfstoff Astra-Zeneca. Es geht um Hirnvenenthrombosen, die tödlich enden können, aber sehr selten sind und sich gut behandeln lassen, wenn die Geimpften auf Anzeichen achten und sich gegebenenfalls früh bei ihrem Arzt melden. Dänemark verkündete am Mittwoch, man wolle auf Astra-Zeneca nun ganz verzichten, Frankreich erklärte, man setze weiter sowohl auf Astra-Zeneca wie auch auf Johnson&Johnson.
Thomas Mertens, Chef der Ständigen Impfkommission (Stiko), wollte sich auf Handelsblatt-Anfrage nicht festlegen, welchen Umgang mit dem Mittel von Johnson&Johnson er empfehle. „Zunächst müssen die Daten aus den USA verfügbar sein, um dann bewertet zu werden“, sagte er. Es sei die Aufgabe der europäischen Arzneimittelbehörde Ema, die erfolgte Zulassung zu prüfen.
Mehr: Biontech zieht Lieferung an Europa vor – EU verhandelt über 1,8 Milliarden Dosen bis 2023
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