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Industrie Wie die Gewerkschaften einen „Rust Belt“ in Deutschland verhindern wollen

Aus Sicht der Gewerkschaften liefern SPD, Grüne und FDP bisher kein überzeugendes Sicherheitsversprechen für Beschäftigte im Wandel. Sie rufen deshalb für Freitag bundesweit zu Protesten auf.
29.10.2021 Update: 29.10.2021 - 14:06 Uhr 1 Kommentar
Für sichere und gute Arbeit in einer klimafreundlichen Industrie. Quelle: dpa
Protestaktion vor dem Reichstag in Berlin:

Für sichere und gute Arbeit in einer klimafreundlichen Industrie.

(Foto: dpa)

Berlin ZF Friedrichshafen blickt auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurück und hat sich in dieser Zeit immer wieder neu erfunden. Anfangs Produzent von Zahnrädern, entwickelte sich das schwäbische Unternehmen im Zeitalter des Verbrennungsmotors zu einem der führenden Autozulieferer.

Doch bei den Beschäftigten an den deutschen Standorten wächst die Sorge, dass die Zukunft ohne sie stattfinden könnte. Denn die zukunftsträchtigen E-Mobilitäts-Aktivitäten fahre ZF vor allem in Serbien hoch, kritisiert Metall-Chef Jörg Hofmann.

Der Konzern vom Bodensee ist nur eines von vielen Unternehmen, die schon mitten im Strukturwandel stecken oder denen noch eine beispiellose Transformation bevorsteht. Das gilt für andere Autozulieferer wie Bosch, Continental oder Mahle, die den Weg ins Elektrozeitalter schaffen müssen. Das gilt für Stahlhersteller wie Thyssen-Krupp, die auf Wasserstoff umstellen. Das gilt für die gesamte chemische Industrie, die, wenn sie klimaneutral produzieren will, so viel Strom benötigt, wie ganz Deutschland heute verbraucht. An den Industriearbeitsplätzen, die diese Unternehmen bieten, hängen ganze Regionen – im Saarland, in Schwaben, im Ruhrgebiet, in Ostdeutschland, entlang des Rheins.

Erst vergangene Woche hatte die „Nationale Plattform Zukunft der Mobilität“ verschiedene Berichte über die Beschäftigungseffekte der Umstellung auf die Elektromobilität veröffentlicht. Demnach könnten allein für den Aufbau einer bedarfsdeckenden europäischen Batteriezellfertigung bis 2030 jährlich bis zu 65.000 hochspezialisierte Fachkräfte gebraucht werden. Auch in der Produktion von Leistungselektronik oder Brennstoffzellenfahrzeugen werden voraussichtlich neue Arbeitsplätze entstehen. Diese reichen aber nicht aus, um die Jobverluste entlang des klassischen Antriebsstrangs auszugleichen.

Chef der Arbeitnehmergruppe der Union fordert „Beschäftigungspakt“

Die Gewerkschaften fordern deshalb, die Beschäftigten in der Transformation nicht alleinzulassen, sondern ihnen neue Perspektiven zu bieten. Statt die Produktion von Zukunftstechnologien in Billiglohnländer zu verlagern, sollen die Unternehmen in bestehende Standorte investieren und diese zukunftsfest machen.

Für diesen Freitag haben die IG Metall und die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) deshalb zu einem bundesweiten Protesttag aufgerufen. Allein die IG Metall hatte um die 50.000 Teilnehmer, wobei die größte Kundgebung in Stuttgart stattfinden sollte.

Gewerkschaftschef Hofmann trat in Berlin auf, wo sich Hunderte Metaller in der Bannmeile des Bundestags zwischen Reichstagsgebäude und Spree versammelt hatten und wo auch prominente Gäste wie SPD-Chef Norbert Walter-Borjans oder Arbeitsminister Hubertus Heil auftraten. Seine Gewerkschaft werde nicht zulassen, dass durch Klimaschutz und Digitalisierung die Industrie, die die Geschichte und den Wohlstand des Landes geprägt habe, aufs Spiel gesetzt werde, sagte Hofmann.

Aufs Reißbrettern und Dashboards seien die Klimaziele formuliert, aber die Frage, wie sie erreicht werden sollen, sei offen. „Wir brauchen jetzt klare Planungssicherheit nach vorne“, forderte der IG-Metall-Chef. Viele Arbeitgeber hätten immer noch nicht erkannt, vor welcher Herausforderung sie stünden.

Um diese zu bewältigen, seien Milliardeninvestitionen erforderlich, zuvorderst in die Standorte, an denen schon heute produziert werde. Und die Beschäftigten bräuchten eine Perspektive, forderte Hofmann: „Niemand darf unter die Räder kommen.“

Bei SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, der mit Grünen und FDP über die Bildung einer Ampelkoalition verhandelt, hat die Botschaft schon verfangen. Der Wandel müsse aktiv gestaltet werden, sagte er diese Woche auf dem Bundeskongress der IG BCE. Man wolle in Deutschland keinen „Rust Belt“, betonte er mit Blick auf die einst von der Industrie dominierte Region vom Bundesstaat New York bis zum Mittleren Westen der USA.

Schade nur, dass sich diese Einstellung nicht auch in den Ergebnissen der Sondierungsgespräche von SPD, Grünen und FDP wiederfinde, hatte Hofmann im Vorfeld des Aktionstags im Gespräch mit Journalisten kritisiert. Für das „Lebenschancen-Bafög“, mit dem die potenziellen Ampelkoalitionäre lebenslange Aus- und Weiterbildung finanziell unterstützen wollen, hat der IG-Metall-Chef nur Spott übrig. „Mitleids-Bafög“ nennt er es.

„Keiner darf unter die Räder kommen.“ Quelle: dpa
IG-Metall-Chef Jörg Hofmann

„Keiner darf unter die Räder kommen.“

(Foto: dpa)

Auch der neue Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion im Bundestag, Axel Knoerig (CDU), hält das Ampel-Sondierungspapier mit Blick auf die Herausforderungen der Transformation für viel zu dünn: „Wir brauchen einen Beschäftigungspakt für alle Branchen, denen eine starke Transformation bevorsteht“, sagte er dem Handelsblatt. Das betreffe insbesondere die Automobilindustrie.

Was die Transformation dort bedeutet, kann Knoerig in seinem Wahlkreis Diepholz beobachten, wo um die Zukunft der ZF-Standorte gerungen wird. „Wir müssen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Sicherheit geben, indem sie an den Umstrukturierungsprozessen beteiligt werden“, fordert der Abgeordnete. Die berufliche Weiterbildung sei dabei ein wichtiger Schwerpunkt.

Die IG Metall fordert einen Verzicht auf Entlassungen in der Transformation und ein „Sicherheitsversprechen“ für vom Wandel betroffene Beschäftigte. Dazu gehöre, sie bei einer Weiterbildung oder Umschulung auch angemessen finanziell zu unterstützen. Hofmann schwebt dabei eine Leistung in Höhe des Arbeitslosengelds I vor, also mindestens 60 Prozent des Nettolohns. Auch müsse das Qualifizierungschancengesetz erweitert werden, das derzeit keine Förderung berufsqualifizierender Abschlüsse erlaube.

Die Gewerkschaft hatte ein Transformations-Kurzarbeitergeld ins Spiel gebracht, mit dem Beschäftigte ihre Jobs behalten und sich weiterqualifizieren können sollen, wenn ein Unternehmen wegen des technologischen Wandels umgebaut wird. Arbeitsminister Heil sagte bei der Kundgebung in Berlin: „Das Instrument muss und wird kommen.“ 

IG Metall hält zusätzliche Investitionen in Höhe von 500 Milliarden Euro für erforderlich

Die Gewerkschaft fordert aber auch, zukunftsfähige neue Arbeitsplätze dort anzusiedeln, wo alte Jobs wegfallen. Staatliche Hilfsgelder sollten auf jeden Fall an Standort- und Beschäftigungsgarantien geknüpft werden.

Und nicht zuletzt seien über die nächsten zehn Jahre 500 Milliarden Euro an öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur erforderlich. An der Finanzierung würde Hofmann gern Spitzenverdiener und Vermögende stärker beteiligen, doch hat die FDP bei Steuererhöhungen schon eine rote Linie für die Koalitionsverhandlungen gezogen.

Dennoch hätte der IG-Metall-Chef ein paar Ideen, wie sich die nötigen Milliarden mobilisieren ließen. So werde auf europäische Ebene gerade angeregt über die Frage diskutiert, wie investive Ausgaben künftig bei den Schuldenregeln berücksichtigt werden sollen. Außerdem gebe es Möglichkeiten der indirekten staatlichen Investitionstätigkeit.

Auf jeden Fall dürfe die Transformation nicht nur auf dem Rücken der betroffenen Beschäftigten abgeladen werden, fordert Hofmann: „Es ist eine Herausforderung, die sich gesellschaftlich für uns alle stellt.“

Mehr: Interview mit IG-Metall-Chef Hofmann: „Wir erleben einen immensen Subventionswettbewerb in Europa“

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1 Kommentar zu "Industrie: Wie die Gewerkschaften einen „Rust Belt“ in Deutschland verhindern wollen"

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  • „Die Gewerkschaften fordern deshalb, die Beschäftigten in der Transformation nicht alleinzulassen, sondern ihnen neue Perspektiven zu bieten.“
    Als vor wenigen Jahren Volkswagen-CEO Diess die Transformation hin zur Elektromobilität im Stammwerk Wolfsburg beginnen wollte, liess ihn Bernd Osterloh auflaufen. So bekam Zwickau anstelle von Wolfsburg die ID. Familie. Das Management hatte die Weitsicht, aber die Gewerkschaft hat es verbockt.
    Heute stellt sich die Gewerkschaft als Opfer hin, dabei schafft es Frau Cavallo bei der Planung der ersten Betriebversammlung offensichtlich nicht einmal zu überprüfen, ob der CEO, den sie unbedingt dabei haben will, überhaupt im Land ist. Und dem HB fällt nichts Besseres ein, als die Trotzreaktionen der Betriebsratschefin unkritisch wiederzugeben, anstatt im selben Satz darauf hinzuweisen, dass Diess‘ Reise seit einem halben Jahr geplant war.
    Die Gewerkschaft betreibt rücksichtslose Machtpolitik auf Kosten der Mitarbeiter, für die sie sich eigentlich gemeinsam mit dem Management einsetzen sollte.

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