Infrastruktur Warum das Bädersterben in Deutschland ein Mythos ist

Auch die Schwimmbäder leiden unter der Coronakrise.
Berlin „Alle vier Tage schließt in Deutschland ein Schwimmbad. Wie soll da jedes Kind schwimmen lernen?“ Diese rhetorische Frage stellte Jessica Rosenthal jüngst in einem Bewerbungsinterview für den Juso-Bundesvorsitz, für den die 27-Jährige kandidiert.
Mit dem Verweis auf das Bädersterben wollte die SPD-Politikerin verdeutlichen, was in ihren Augen seit Jahren grundsätzlich schiefläuft im Land. Die Infrastruktur, die öffentliche Daseinsvorsorge ist im Niedergang. Und das Bädersterben das Symbol dafür.
Nicht nur Rosenthal, auch viele Politiker und Sozialverbände klagen seit vielen Jahren über das Bädersterben in Deutschland. Die DLRG hat im Oktober 2018 eine Onlinepetition ins Leben gerufen und 120.000 Unterschriften gesammelt, sodass es Anfang dieses Jahres sogar eine Anhörung des Sportausschusses im Bundestag zu dem Thema gab.
Die Sache ist nur: Die Zahl, dass alle vier Tage ein Bad dichtmacht, stimmt nicht. Wer versucht, mehr über das Bädersterben herauszufinden, kommt zu dem Schluss: Das Bädersterben ist ein Mythos.
So sagt Christian Ochsenbauer, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen: „Von einem massenhaften Bädersterben zu reden ist Humbug.“
Wer dem Lobbyisten nicht traut – aus der Wissenschaft ist Gleiches zu hören. Lutz Thieme, Sportwissenschaftler an der Universität Koblenz, führt gerade eine groß angelegte Untersuchung zur Zahl der Schwimmbäder in Deutschland durch. Er sagt: „Die Behauptung, es gäbe ein Bädersterben, ist empirisch nicht zu halten. Es gibt schlicht keine belastbare Datengrundlage.“
Vergleich zweier Zahlen
Um das zu verstehen, muss man etwas tiefer in die Zahlen eintauchen. Die Aussage basiert auf dem Vergleich zweier Zahlen. Die erste beruht auf einer Erhebung aus dem Jahr 2000 der Sportministerkonferenz.
Demnach gab es zur Jahrtausendwende 7800 Bäder in Deutschland. Im Jahr 2017 zählte die Gesellschaft für Badewesen 6500. Wer diese Zahlen miteinander vergleicht, kommt tatsächlich auf ein geschlossenes Bad alle vier Tage.
Nur: Seit 2017 sinkt die Zahl der Bäder nicht mehr. Das ist aber nicht das entscheidende Argument, sondern: Die Zahlen aus den Jahren 2000 und 2017 sind schlicht nicht miteinander vergleichbar.
Wie im Jahr 2000 genau gezählt wurde, wie etwa Naturbäder genau berücksichtigt wurden, kann heute niemand mehr nachvollziehen. Auch beruhte die Erhebung damals nur auf Stichproben. Wer die Zahl von 2000 mit der von 2017 vergleicht, vergleicht schnell Äpfel mit Birnen.
Was ebenfalls nicht berücksichtigt wird: „Es werden Bäder geschlossen, ja, aber es entstehen auch neue“, sagt Professor Thieme. „Wenn ein neues Bad die alten Kapazitäten von zwei geschlossenen Bädern übernimmt, wurde überhaupt keine Wasserfläche verloren.“
Das heißt nicht, dass überhaupt keine Probleme im Badewesen existieren. Es gibt eine leichte Ausdünnung von Bädern in ländlichen Gebieten, hat Thieme festgestellt, auch einen Sanierungsstau. Und die Coronakrise stellt die Bäder auf eine harte Probe, weil sie monatelang schließen oder nur mit halb so vielen Gästen auskommen mussten. All das ist richtig. Aber eben nicht die Geschichte vom großen Bädersterben – auch wenn es vielen Menschen so scheint.
Bäder-Wikipedia soll im Herbst an den Start gehen
Bäder sind neben Eishallen nicht nur der teuerste, sondern auch der emotionalste Teil der öffentlichen Infrastruktur. „Wenn ein Bad geschlossen werden soll, hat dies einen hohen Symbolwert und eine große Bedeutung für viele Bürger“, so Thieme. Vom Einzelfall wird dann fälschlicherweise schnell auf einen Trend geschlossen.
Derzeit weiß aber niemand, wie viele Bäder es gibt, auch der „Bäderatlas“ der Gesellschaft für Badewesen ist unvollständig, wie der Verband selbst einräumt. Thieme ist seit einem Jahr dabei, überhaupt zum ersten Mal eine verlässliche Datengrundlage über die Bäder in Deutschland zu schaffen.
Gemeinsam mit vielen Verbänden will er eine Art Wikipedia für Strukturdaten von Bädern aufbauen, im Herbst soll der Startschuss erfolgen. Wie viele Bäder der Professor bislang gezählt hat, will er noch nicht verraten. Nur so viel: Die Zahl weicht nicht erheblich von denen der Bäder-Gesellschaft ab.
Dass bei den Bädern jedenfalls viel in Bewegung ist, zeigt sich gerade in NRW. In Münster wirbt die SPD im Kommunalwahlkampf stark damit, dass die Stadt endlich ein Freizeitbad brauche.
Und im hochverschuldeten Essen wurde gerade die Sanierung samt Überdachung des Grugabads beschlossen, damit dort ein Ganzjahresbetrieb starten kann. Kostenpunkt: 70 Millionen Euro.
Mehr: Den deutschen Kommunen macht die Coronakrise auch finanziell zu schaffen
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