Insolvenzantragspflicht DIW-Präsident Fratzscher erwartet „Welle von Unternehmensinsolvenzen“

Die Insolvenzantragspflicht wurde Anfang des Jahres für Unternehmen mit einem Anspruch auf Corona-Hilfen bis Ende April ausgesetzt.
Berlin Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnt davor, die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht für zahlungsunfähige oder überschuldete Unternehmen über Ende April hinaus zu verlängern. „Deutschland wird unweigerlich eine Welle von Unternehmensinsolvenzen bevorstehen, und es ist besser, diese frühzeitig zu erkennen und abmildern zu helfen“, sagte der DIW-Chef dem Handelsblatt.
Der Sinn und Zweck der Antragspflicht für Insolvenzen sei ja, sowohl die betroffenen Unternehmen als auch die Gläubiger zu schützen. „Ein frühzeitiger Antrag auf Insolvenzschutz erlaubt es Unternehmen, Verbindlichkeiten umzustrukturieren und die Chance fürs Überleben zu verbessern“, erläuterte Fratzscher. Viele Unternehmen hätten nach einem Jahr der Pandemie hohe Schulden aufgebaut. „Eine immer weitere Verzögerung der Antragspflicht für insolvente Unternehmen verursacht mittlerweile mehr Schaden als Nutzen.“
Der SPD-Rechtspolitiker Johannes Fechner hatte für eine Verlängerung der derzeitigen Regelung „um einen, besser zwei Monate“ plädiert. Die CDU zieht jedoch bisher nicht mit. Und auch das Bundesjustizministerium plant derzeit keinen längeren Insolvenzschutz.
Ohne eine Einigung in der Koalition läuft die Aussetzung der Antragspflicht für Firmen, die durch die Corona-Pandemie in Not geraten sind, Ende des Monats aus. Fechner wies indes darauf hin, dass eine Verlängerung auch in der ersten Sitzungswoche des Bundestags im Mai beschlossen werden könnte. Die Antragspflicht könne dann rückwirkend wieder ausgesetzt werden.
Der Bundestag hatte die Insolvenzantragspflicht Anfang des Jahres für Unternehmen mit einem Anspruch auf Corona-Hilfen bis Ende April ausgesetzt. Fechner begründete seinen Vorstoß damit, dass die Corona-Hilfen bei vielen Firmen noch nicht ausreichend angekommen seien. Diese eigentlich gesunden Unternehmen müssten vor der Insolvenz bewahrt werden.
Mittelstand warnt vor „Insolvenzanfechtungsrisiken“
Der CDU-Rechtspolitiker Jan-Marco Luczak mahnte, mit einer Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nicht leichtfertig umzugehen, da damit immer auch eine Verkürzung von Gläubigerrechten verbunden sei. „Angesichts wiederholter Aussetzungen, die die fortschreitende Pandemie seit dem Frühjahr 2020 erforderlich gemacht hat, brauchen die Unternehmen nun wieder mehr Rechtsklarheit“, sagte Luczak dem Handelsblatt. Dies gelte für Schuldner wie für Gläubiger.
Scharfe Kritik an der Haltung äußerte der Wirtschaftsexperte der Linksfraktion im Bundestag, Pascal Meiser. „Aufgrund der Weigerung der Bundesregierung, die Insolvenzantragspflicht weiter zumindest in Teilen auszusetzen, droht jetzt schon ab dem 1. Mai eine verheerende und vor allem vermeidbare Insolvenzwelle“, sagte Meiser dem Handelsblatt. „Die mangelhafte Vorbereitung auf die zweite Welle der Pandemie und die schleppende Umsetzung der Corona-Hilfsprogramme durch die Bundesregierung dürfen nicht zu Lasten der betroffenen Unternehmen gehen.“
Der Mittelstandsverbund ZGV, der nach eigenen Angaben die Interessen von etwa 230.000 mittelständischen Unternehmen vertritt, sieht es anders. „Eine weitere Verlängerung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht über den 30. April hinaus birgt ein hohes Risiko“, sagte Verbands-Hauptgeschäftsführer Ludwig Veltmann dem Handelsblatt. „Klarheit über den wirtschaftlichen Status eines Unternehmens ist in Lieferketten und bei Dienstleistungsverträgen von zentraler Bedeutung.“

„Ein frühzeitiger Antrag auf Insolvenzschutz erlaubt es Unternehmen Verbindlichkeiten umzustrukturieren und die Chance fürs Überleben zu verbessern“, so der DIW-Präsident.
Allerdings müssten „Insolvenzanfechtungsrisiken“ durch entsprechende Regelungen im Insolvenzrecht für Unternehmen über einen „hinreichend langen Zeitraum“ ausgeschlossen werden, sagte Veltmann weiter. Gerade in Branchen mit hoher Saisonalität, etwa bei Schuhen, Textil, Sport oder Lederwaren, bräuchten Händler diesen Zeitraum, um sich von den Folgen der Pandemie zu erholen.
„Es kann nicht sein“, betonte Veltmann, „dass wirtschaftliche Nachteile, die etwa Anschlusshäuser von Verbundgruppen durch die Lockdown-Maßnahmen erleiden mussten, zu einer Anfechtung im Rahmen eines später einsetzenden Insolvenzverfahrens berechtigen.“
Der Verband vertritt 310 Verbundgruppen aus rund 45 Branchen organisiert, darunter zum Beispiel Küchen und Möbel, Konsumelektronik, Schuhe und Textil, das Bauhandwerk oder Lebensmittel und Getränke. Einzelne Verbundgruppen treten unter einer Marke auf, etwa Edeka, Rewe, Intersport, expert oder hagebau.
Neue Datenbank zum Stand beantragter Insolvenzen
Die Verbundgruppen haben unter anderem den Sinn, Einkäufe für die Mitglieder (Anschlusshäuser) zu bündeln und die Bezahlung zentral abzuwickeln. Der Lieferant bekommt seine Rechnung zentral bezahlt. Die Verbundgruppenzentrale holt sich das Geld anschließend von den einzelnen Händlern, die bei den Lieferanten individuell die Ware abgerufen haben, wieder zurück.
Wenn nun zu einem späteren Zeitpunkt und infolge der Probleme durch Corona ein Mitglied insolvent geht, bestehe die Gefahr, dass ein Insolvenzverwalter sich an die Verbundgruppe wende, weil sie um die Probleme des Händlers gewusst und für seinen Warenbezug dennoch abgerechnet habe, erläuterte Veltmann. „Es steht zu befürchten, dass daraus eine Insolvenzanfechtung erfolgt.“
Wenn diese Gefahr nicht beseitigt werde, würden voraussichtlich einige Verbundgruppen zur Vermeidung des Risikos ihre Zahlungen nicht mehr leisten können. „Das wiederum löst eine Kettenreaktion aus und Händler gehen massenhaft pleite“, warnte der Verbands-Hauptgeschäftsführer.
Um abschätzen zu können, ob, wann und in welchem Ausmaß eine Insolvenzwelle droht, haben Forscher eine Datenbank zum aktuellen Stand der beantragten Unternehmensinsolvenzen in Deutschland aufgebaut. Das Portal, das seit diesem Freitag zugänglich ist, enthält tagesaktuelle Daten zu Unternehmensinsolvenzverfahren, die auf den Bekanntmachungen der Insolvenzgerichte basieren.
„Diese Daten können wichtige Erkenntnisse liefern, zum Beispiel darüber, ob die richtigen Unternehmen gerettet werden oder welchen gesellschaftlichen Nutzen und welche Kosten Insolvenzverfahren generieren“, erklärt Joachim Gassen, Professor für Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung der Humboldt-Universität zu Berlin und verantwortlich für den Sonderforschungsbereich „TRR 266 Accounting for Transparency“.
Doch wie aussagekräftig kann eine solche Datenbank in der Coronakrise überhaupt sein? „Die Daten sind wesentlich aktueller als die archivierten Informationen, die das Statistische Bundesamt jeweils vorlegt“, sagte Gassen dem Handelsblatt. „Mit den Insolvenzbekanntmachungen, die für die Datenbank quasi täglich ausgewertet werden, lässt sich sehr genau sehen, was gerade bei den Insolvenzgerichten bearbeitet wird.“
„Noch geben die Daten nicht zu erkennen, dass der Trend bei den Insolvenzen hochgeht“, berichtet Gassen. Dabei müsste aber langsam zu sehen sein, dass seit Anfang 2021 nur noch die Unternehmen in Schieflage von der Insolvenzantragspflicht ausgenommen sind, die einen Anspruch auf Corona-Hilfen haben. Das deute darauf hin, dass einige Unternehmen „unterm Radar fliegen“ und die Bedrohung der Insolvenzverschleppung für sich ignorierten.
„Das ist natürlich kritisch“, meint Ökonom Gassen. Dennoch plädiert er grundsätzlich für eine Verlängerung des aktuellen Insolvenzschutzes: „Für die Unternehmen, die von Corona schwer getroffen sind und Hilfsgelder beziehen, ist das weiter sinnvoll.“
Sorge vor Zombiefirmen
Laut Gassen und seiner Kollegin Urska Kosi von der Universität Paderborn bieten die Daten auch einen genaueren Blick auf das Insolvenz-Paradox, also den Umstand, dass gerade jetzt in der Coronakrise, in der viele Unternehmen ums Überleben kämpfen, die Unternehmensinsolvenzen deutlich zurückgegangen sind.
„Die Anzahl der Insolvenzanträge ist vor allem in den Branchen gesunken, die vergleichsweise wenig von der Pandemie betroffen sind“, erklärt Ökonomin Kosi. Im Bereich der Kfz-Werkstätten zum Beispiel seien die Insolvenzanträge im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 30 Prozent zurückgegangen.
„Das ist erstaunlich, da die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht formal auf Fälle beschränkt ist, bei denen die Pandemie ursächlich für die finanzielle Schieflage ist“, so Kosi. In von der Pandemie stark betroffenen Branchen wiederum seien die Insolvenzen trotz der Regulierungsänderung deutlich gestiegen.
Diese Zombiefirmen, so meinen die Forscher, könnten eine Insolvenzwelle auslösen und den Neustart der Wirtschaft nach dem Ende der Pandemie deutlich erschweren.
Mehr: Reiseanbieter, Schiffbauer, Autozulieferer: Das sind die Profiteure des Corona-Schutzschirms.
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