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Interview Bitkom-Präsident Berg fordert den „großen Schuss“ in der Digitalpolitik

Achim Berg zieht eine ernüchternde Bilanz der Digitalpolitik der Bundesregierung. Er kritisiert, dass in Deutschland „sehr oft der Langsamste das Tempo“ bestimme.
30.08.2021 - 13:12 Uhr Kommentieren
„Das Etikett ‚made in Germany‘ ist in der Digitalisierung noch kein Markenzeichen.“ Quelle: dpa
Achim Berg

„Das Etikett ‚made in Germany‘ ist in der Digitalisierung noch kein Markenzeichen.“

(Foto: dpa)

Berlin Der Präsident des IT-Verbands Bitkom, Achim Berg, hat vor den Folgen des Digitalisierungsstaus in Deutschland gewarnt. Es gebe „einen massiven Verlust an Vertrauen in den Staat, weil die Umsetzung der Digitalisierung sich seit einer halben Ewigkeit hinzieht“, sagte Berg dem Handelsblatt. Man glaube schlichtweg nicht mehr, dass die Dinge zeitnah kommen. „In Deutschland bestimmt sehr oft der Langsamste das Tempo. Und wenn die Bremser die Geschwindigkeit bestimmen, dann kommen wir nicht voran.“

Der Bitkom-Präsident fordert die Schaffung eines Digitalministeriums, um bei der Digitalisierung schneller voranzukommen. „Die Verteilung der digitalen Verantwortung auf verschiedene Ressorts ist ein Konstrukt von vorgestern“, sagte Berg. Aus seiner Sicht sollte ein bereits bestehendes Ressort zu einem echten Digitalministerium ausgebaut werden.

Er würde das Wirtschafts-, Verkehrs- oder Innenressort nehmen und dort digitale Kompetenzen zusammenführen. Es müssten zudem alle Digitalinitiativen des Bundes in das Ministerium integriert werden. „Das Ministerium muss die Federführung bei digitalen Kernprojekten und Koordinierungsrechte gegenüber anderen Ressorts haben“, sagte Berg. Wichtig sei auch ein Digitalvorbehalt für alle Gesetze, die Digitalfragen berühren, analog zum Finanzierungsvorbehalt des Finanzministeriums.

In dem Ministerium sollten insbesondere der Breitbandausbau und die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung angesiedelt sein, sagte Berg weiter. „Innovative Technologieprojekte und die Leitung des Digitalkabinetts sollten ebenfalls in der Hand des Digitalministeriums liegen.“

Er sehe allerdings die Gefahr, „dass man womöglich ein Pseudoministerium baut“. Das dürfe nicht passieren. „Klingelschilder gibt es schon genug, deswegen bin ich für einen Ministeriumsumbau und nicht für einen kompletten Neuaufbau.“ Ein Weiter-so in der Digitalpolitik könne für die neue Bundesregierung jedenfalls keine Option sein. „Wir brauchen jetzt den großen Schuss.“

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Berg, wie haben Sie die erste große Fernsehdebatte der drei Kanzlerkandidaten erlebt?
Es ist mehr als befremdlich, dass Digitalisierung in der Diskussion keine Rolle gespielt hat. Digitalisierung ist der Schlüssel, um zentrale Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Das gilt für das Erreichen der Klimaziele ebenso wie für einen wirkungsvollen Kampf gegen Corona oder den Erhalt einer international wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Für 40 Prozent der Bevölkerung spielt Digitalisierung bei ihrer Wahlentscheidung in diesem Jahr eine wichtige Rolle. Das sollten alle Beteiligten bei künftigen Diskussionen im Blick haben.

Dass beim Thema Digitalisierung einiges im Argen zu liegen scheint, zeigt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Experten sprechen von „verschiedenen Formen von Organisationsversagen“. Wie fällt Ihre Analyse aus?
Wir können mit dem Status quo nicht zufrieden sein. Wir liegen bei nahezu allen digitalen und technologischen Themen in Verwaltung, Bildung und teilweise auch bei Infrastruktur deutlich hinter den führenden Nationen auch in Europa zurück. Wir müssen die Defizite rasch beheben.

Ist das so einfach, insbesondere in der Verwaltung?
Die Verwaltung liegt in einem Dornröschenschlaf. Da rauchen weiterhin die Faxgeräte, und auf den Fluren verteilen Dienstboten die Papiere. Ähnlich die Schulen: Ein Großteil befindet sich weiterhin in der Kreidezeit. Dabei wurden Milliarden für die Digitalisierung zur Verfügung gestellt. Die Mittel werden aber kaum abgerufen.

Dabei wollte die Bundesregierung schon 2014 mithilfe der „Digitalen Agenda“ zu einem digitalen Vorreiter in Europa werden.
Es fehlt nicht an guten Vorsätzen. Es sind unklare Verantwortlichkeiten, mangelnde Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, und falsch besetzte Positionen an entscheidenden Stellen, die uns nicht weiterbringen.

Was meinen Sie mit falsch besetzten Positionen?
Ich vermisse manchmal Entscheidungsfreude, bestimmte Dinge zu tun, einzuführen oder zu verändern. Wir beobachten immer wieder: Wenn es an der Spitze so mancher Verwaltung eine personelle Veränderung gibt, bewegen sich plötzlich Dinge, die über Jahrzehnte in Beton gegossen waren. In Deutschland bestimmt sehr oft der Langsamste das Tempo. Und wenn die Bremser die Geschwindigkeit bestimmen, dann kommen wir nicht voran.

Was folgt daraus?
Die neue Bundesregierung sollte eine Staatsstrukturreform anschieben, um Handlungsfähigkeit wiederherzustellen.

Was soll eine solche Reform konkret bewirken?
Bestimmte Themen in Verwaltung und Bildung müssen auch mal Top-down entschieden und umgesetzt werden. Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Prozesse 16 Mal entwickelt werden und der Bund nicht eingreifen kann, wenn etwas nicht läuft. Der „Digitalpakt Schule“ ist ein Beispiel dafür. Wäre er konsequenter und schneller umgesetzt worden, hätte man die Folgen der Coronakrise besser abmildern können.

Sie wollen also, dass der Bund mehr Kompetenzen gegenüber den Ländern erhält?
Ja. Ich glaube, dass es Themen gibt, die man zentral steuern muss. Ich bin nicht grundsätzlich gegen den Föderalismus. Er hat viele gute Seiten. Aber zum Beispiel in der Bildung oder in der Verwaltung geht es um Entwicklungen und Veränderungen, die bundesweite Relevanz haben. Da kann nicht jeder sein eigenes Süppchen kochen.

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Was meinen Sie konkret?
Zum Beispiel muss das Format, in dem Daten und Dokumente abgelegt werden, bundesweit einheitlich sein, damit ein Austausch zwischen den Behörden problemlos möglich ist. Das ist immens wichtig, um Bürgern und Unternehmern umständliche Behördengänge zu ersparen.

Sehen Sie hier die größte Baustelle bei der Digitalisierung?
Ja. Die größte Baustelle ist für mich die öffentliche Verwaltung. Mit dem Onlinezugangsgesetz hat die Bundesregierung versprochen, bis Ende 2022 insgesamt 575 Verwaltungsleistungen digitalisiert anzubieten. Das ist gut und richtig. Ich bezweifle allerdings, dass dies noch zu schaffen ist.

Warum?
Die Bundesregierung hat keinerlei Durchgriff, kann letztlich nur gut zureden, und die Mühlen vieler Verwaltungen mahlen einfach viel zu langsam. Die zentrale Frage ist zudem, wie schnell die Leistungen in der Fläche zur Verfügung stehen. Auch hier bin ich skeptisch. Außerdem müssen die Verwaltungsleute geschult werden. Die neuen Formen der Zusammenarbeit müssen allen vertraut gemacht werden. Da sehe ich große Herausforderungen.

Viele der Leistungen, die von dem Onlinezugangsgesetz erfasst werden, fallen ja auch in die Zuständigkeit der Länder und der Kommunen. Da sind Verzögerungen quasi vorprogrammiert.
Eben. Es macht doch gar keinen Sinn, dass jede Kommune das Rad neu erfindet, das sehen übrigens inzwischen auch immer mehr Kommunen so. Es ist sehr viel einfacher, wenn der Bund bestimmte Dinge allen vorgibt und dazu dann auch die nötige Unterstützung anbietet. Das könnte auch proaktives Verwaltungshandeln ermöglichen.

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Das heißt?
Wünschenswert wäre, wenn in Zukunft etwa bei Heirat, der Geburt des Kindes oder Arbeitslosigkeit Leistungen proaktiv vorgeschlagen und dann auch die dafür erforderlichen Verwaltungsprozesse angestoßen werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich dann nicht mehr selbst durch den Behörden- und Dokumentendschungel hangeln. Eine gute Digitalisierung würde auch mehr Transparenz ermöglichen. Warum soll man nicht in Echtzeit den Bearbeitungsstand von Bauanträgen mitverfolgen können? Bei der Paketzustellung funktioniert das heute ja auch schon, und eine Paketzustellung ist viel komplexer als ein Bauantrag.

Wäre die Schaffung eines Digitalministeriums hilfreich, um bei der Digitalisierung schneller voranzukommen?
Deutschland braucht ein Digitalministerium. Das hat einen einfachen Grund. Wer ein digitales Anliegen hat, der rennt heute von Pontius zu Pilatus und muss alle möglichen Ministerien abklappern, bis er die Antworten bekommt, die er haben möchte. Jeder macht ein bisschen digital, aber niemand fühlt sich der Digitalisierung zu hundert Prozent verpflichtet. Die Verteilung der digitalen Verantwortung auf verschiedene Ressorts ist ein Konstrukt von vorgestern.

Wie soll ein Digitalressort aussehen?
Ein bereits bestehendes Ressort sollte zu einem echten Digitalministerium ausgebaut werden. Welches Ministerium dafür infrage kommt, ist zweitrangig. Das hängt auch von der Arithmetik der neuen Regierungskoalition ab.

Haben Sie eine bestimmte Vorstellung?
Das kann am ehesten das Wirtschafts- oder Verkehrs-, vielleicht auch das Innenministerium sein. Ich würde eines dieser Ministerien nehmen und dort digitale Kompetenzen zusammenführen, natürlich mit den entsprechenden zusätzlichen Haushaltsmitteln. Es müssen zudem alle Digitalinitiativen des Bundes in das Ministeriums integriert werden. Das Ministerium muss die Federführung bei digitalen Kernprojekten und Koordinierungsrechte gegenüber anderen Ressorts haben. Wichtig ist auch ein Digitalvorbehalt für alle Gesetze, die Digitalfragen berühren, analog zum Finanzierungsvorbehalt des Finanzministeriums.

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Wie sollte ein Digitalministerium thematisch aufgebaut sein?
In dem Ministerium sollten insbesondere der Breitbandausbau und die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung angesiedelt sein. Innovative Technologieprojekte und die Leitung des Digitalkabinetts sollten ebenfalls in der Hand des Digitalministeriums liegen.

Und das wird funktionieren?
Ich sehe die Gefahr, dass man womöglich ein Pseudoministerium baut. Das darf nicht passieren, Klingelschilder gibt es schon genug. Deswegen bin ich für einen Ministeriumsumbau und nicht für einen kompletten Neuaufbau. Damit kommen wir schneller zum Ziel. Ein Weiter-so in der Digitalpolitik kann für die neue Bundesregierung keine Option sein. Wir brauchen jetzt den großen Schuss.

Glauben Sie, dass das gelingt?
Ich würde mich sehr gern positiv überraschen lassen. Es wird ganz entscheidend davon abhängen, wer an der Spitze dieses Hauses steht. Es hängt auch viel davon ab, in welcher Konstellation die neue Bundesregierung am Ende aufgestellt sein wird. Ein ganz entscheidender Punkt wird sein, ob wir an die Innovationsfähigkeit Deutschlands glauben. Und ob wir es wirklich schaffen, Wirtschaft und Gesellschaft in Fragen der Digitalisierung nach vorn zu bringen.

Befürchten Sie angesichts des Digitalisierungsstaus, dass das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unserer politischen Institutionen Schaden nehmen könnte?
Ich sehe zwei Gefahren. Auf der einen Seite sehe ich einen massiven Verlust an Vertrauen in den Staat, weil die Umsetzung der Digitalisierung sich seit einer halben Ewigkeit hinzieht. Man glaubt schlichtweg nicht mehr, dass die Dinge wirklich zeitnah kommen.

Und der zweite Punkt: Es ist für mich schwer vorstellbar, dass die innovativsten und zukunftsträchtigsten Geschäftsmodelle der nächsten Jahre in Staaten entstehen, in denen die Verwaltung und die Schulen bei der Digitalisierung den Anschluss verloren haben. Und damit ist leider auch Deutschland gemeint. Das Etikett „made in Germany“ ist in der Produktion stark, aber in der Digitalisierung noch kein Markenzeichen.

Haben Sie ein Beispiel?
Künstliche Intelligenz. KI ohne Daten ist wie ein Schwimmbad ohne Wasser. Wie wollen Sie KI umsetzen und nutzen, wenn Sie keinen Zugriff auf Massendaten haben? KI lebt von Daten. Wenn die rechtlichen Hemmnisse, der strenge Datenschutz bestehen bleiben, wie in Gottes Namen sollen dann KI-Anwendungen in Deutschland entstehen? Die werden woanders entwickelt.
Herr Berg, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Die wirtschaftliche Bilanz von Angela Merkel in 16 Grafiken

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