Interview Lamia Messari-Becker: „Die Weltklimakonferenz hat gezeigt, dass wir nicht mehr schludern dürfen“

Die Stadtentwicklungsexpertin der Universität Siegen fordert ein eigenständiges Bauministerium.
Berlin Lamia Messari-Becker, Bauingenieurin und bis 2020 Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen, sieht die Bau- und Wohnungspolitik in Deutschland vernachlässigt und fordert ein eigenständiges Bauministerium. „Bauen, Wohnen, Stadt- und Raumentwicklung sowie Infrastruktur sind Topthemen der nächsten Legislaturperiode – und so sollten sie behandelt werden“, sagte Messari-Becker, die an der Universität Siegen lehrt, dem Handelsblatt.
Das Bauressort dürfe nicht länger wie ein Anhängsel von einem Ministerium ans nächste weitergereicht werden. „Es geht hier um die Lebensraumplanung für 83 Millionen Menschen und die Frage, wie diese nachhaltig, sozial und bezahlbar erfolgt.“ Vor allem in den vergangenen vier Jahren sei das Thema nicht mit der notwendigen Entschlossenheit angegangen worden.
Messari-Becker, die im vergangenen Jahr auch Mitglied der Denkfabrik Club of Rome wurde, forderte ein Miteinander aller Akteure sowie ein ganzheitliches Problembewusstsein. „Ansonsten schaffen wir es nicht, die Vielzahl von Problemen zu lösen.“
Der vermutlich neue Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gebe ihr Hoffnung. „Scholz hat meines Erachtens als einziger Ministerpräsident in Hamburg echten sozialen Wohnungsbau betrieben“, sagte sie. Die Stadt profitiere heute noch davon.
Lesen Sie hier das vollständige Interview:
Frau Messari-Becker, Sie fordern ein eigenständiges Bauministerium. Warum?
Bauen, Wohnen, Stadt- und Raumentwicklung sowie Infrastruktur sind Topthemen der nächsten Legislaturperiode – und so sollten sie behandelt werden. Das Bauressort darf nicht länger wie ein Anhängsel von einem Ministerium ans nächste weitergereicht werden. Es geht hier um die Lebensraumplanung für 83 Millionen Menschen und die Frage, wie diese nachhaltig, sozial und bezahlbar erfolgt. Vor allem in den vergangenen vier Jahren ist das Thema nicht mit der notwendigen Entschlossenheit angegangen worden, zulasten vor allem von Mietern und des Klimaschutzes. Die Weltklimakonferenz hat doch gerade gezeigt, dass wir nicht mehr schludern dürfen.
Wie umweltrelevant ist die Branche?
Sie ist hochrelevant. 30 Prozent des CO2-Ausstoßes, knapp 40 Prozent des Energie-, 50 Prozent des Ressourcen-, 70 Prozent des Flächenverbrauchs und mehr als 60 Prozent des gesamten Abfallaufkommens gehen auf das Bauen zurück. Sie sehen, die Potenziale für ressourcenbewusstes, kreislauffähiges und klimafreundliches Bauen und Wohnen sind riesig.
Und was davon ist in einer Legislaturperiode zu schaffen?
Das hängt von den Ambitionen der kommenden Regierung ab. Wird diesen Themen die nötige Priorität eingeräumt, wird Raum für Innovationen geschaffen. Was wir nicht brauchen, sind ideologische Scheuklappen. Wir haben bis 2030 Zeit, um genauso viel CO2-Emissionen einzusparen wie in 30 Jahren zuvor. Das ist eine ziemliche Herkulesaufgabe.
Was genau braucht es?
Es braucht ein Miteinander aller Akteure – und ein ganzheitliches Problembewusstsein. Ansonsten schaffen wir es nicht, die Vielzahl von Problemen zu lösen.
Umbau von Gebäuden und Städten notwendig
Welche genau?
Wie verbinden wir Wohnen und Arbeit? Wie überwinden wie die Kluft zwischen Stadt und Land? Wie nutzen wir die ökonomische Stärke der Baubranche für eine Kreislaufwirtschaft? Wie berücksichtigen wir eine immer älter werdende Gesellschaft? Wie reduzieren wir den Energie- und Materialverbrauch beim Bauen? Wie schaffen wir eine Trendwende beim Flächenverbrauch? Wie den Umstieg auf CO2-neutrales Heizen? Wie lassen sich Energie und Mobilität bezahlbar für alle Menschen gestalten? Und wie sichern wir die Kapazitäten für all diese Aufgaben? Allein um die Sanierungsrate zu erhöhen, braucht es enorme Baukapazitäten und parallel Reformen der KfW-Förderung.
Dazu kommt noch der Umbau von Gebäuden und Städten wegen des Klimawandels.
Richtig! Die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hat deutlich gezeigt: Wir brauchen eine Infrastrukturoffensive, um die gebaute Umwelt für die Zukunft zu rüsten. Dafür braucht es eine echte nationale Strategie und auch deshalb ein eigenständiges Ministerium. Mir ist aber noch ein weiteres Thema sehr wichtig: Die kommende Regierung muss endlich das Versprechen von gleichwertigen Lebensverhältnissen einlösen, damit nicht alle Menschen meinen, in die Städte strömen zu müssen, weil in den ländlichen Regionen die Daseinsvorsorge nicht mehr klappt.

Die Ampelverhandler wollen etwa 400.000 Wohnungen jährlich schaffen.
Trotzdem muss in den Städten weiter und vor allem mehr gebaut werden. 400.000 Wohnungen jährlich will die Ampel schaffen. Ist das realistisch? Die bisherige Regierung hat das nicht geschafft.
Es ist zumindest möglich, und ein vermutlicher Bundeskanzler Olaf Scholz gibt mir da auch Hoffnung. Scholz hat meines Erachtens als einziger Ministerpräsident in Hamburg echten sozialen Wohnungsbau betrieben. Hamburg profitiert heute noch davon. Allerdings braucht es dafür große Anstrengungen, etwa mehr Offenheit beim kommunalen Bauen, ein Umbaurecht von Gebäuden und standarisierte beziehungsweise schnellere Verfahren, um nur drei Aspekte zu nennen.
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