Interview mit Doris Pfeiffer Krankenkassen-Verbandschefin warnt vor steigenden Beiträgen: „Ampel-Maßnahmen alleine reichen möglicherweise nicht aus“

"Der Koalitionsvertrag enthält Licht und Schatten."
Berlin Angesichts der dramatischen Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hat Kassenverbands-Chefin Doris Pfeiffer vor steigenden Beiträgen gewarnt, sollten die Ampel-Parteien ihre gesundheitspolitischen Pläne nicht nachbessern.
„Die im Koalitionsvertrag geplanten Maßnahmen alleine reichen möglicherweise nicht, um das Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung aufzufangen“, sagte Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, dem Handelsblatt. „Deshalb kann man zum gegenwärtigen Zeitpunkt steigende Beiträge ab 2023 seriös nicht ausschließen.“
Der Bund hatte den Zusatzbeitrag, der bei durchschnittlich 1,3 Prozent liegt, für das kommende Jahr mit einem Rekordzuschuss von 28,5 Milliarden Euro stabilisiert. „Was die darauffolgenden Jahre angeht, da muss die Ampel wohl noch nachlegen“, sagte Pfeiffer.
Pfeiffer bedauerte es, dass sich die drei Parteien beispielsweise nicht darauf einigen konnte, die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel auf sieben Prozent zu senken. Diese Maßnahme hätte die Kassen um fünf bis sechs Milliarden Euro entlastet.
„Dass die Ampel den regulären Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen von 14,5 Milliarden Euro den steigenden Ausgaben anpassen will, ist ein wichtiges Signal“, sagte Pfeiffer außerdem. „Nun kommt es aber darauf an, dass der Zuwachs so festgelegt wird, dass die Inflation und die steigenden Leistungsausgaben abgebildet werden.“ Darüber hinaus blieben noch weitere Fragen im Koalitionsvertrag offen.
Das gesamte Interview lesen Sie hier:
Frau Pfeiffer, die Coronalage spitzt sich weiter zu. Worauf muss sich das Gesundheitswesen in den kommenden Monaten einstellen?
Wir sehen, dass die Intensivstationen im Osten und Süden volllaufen. Gleichzeitig gibt es in anderen Bundesländern noch freie Kapazitäten, die durch Verlegungen genutzt werden. Aber auch hier könnte das Gesundheitssystem in absehbarer Zeit an seine Grenzen kommen. Ich hoffe doch sehr, dass sich noch mehr Menschen impfen lassen und sich davon überzeugen lassen, dadurch die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Verlauf zu verringern.
Halten Sie einen Lockdown oder eine allgemeine Impfpflicht für nötig?
Diese Entscheidung muss die Politik treffen. Ich habe zumindest die Hoffnung, dass die Menschen vernünftig sind und ihre Kontakte reduzieren. Ich persönlich kann einer allgemeinen Impfpflicht viel abgewinnen. Bislang haben sich nicht genügend Menschen überzeugen lassen, sich impfen zu lassen. Darunter müssen nun auch Geimpfte leiden, etwa durch drohende Schließungen oder Beschränkungen.
Rechnen Sie mit höheren Kosten für die gesetzliche Krankversicherung im kommenden Jahr durch die Pandemie?
Das ist schwer vorherzusagen. Zum einen gehen Versicherte seltener zum Arzt und lassen sich seltener behandeln, wodurch die Ausgaben sinken. Gleichzeitig haben wir höhere Kosten durch die Behandlung von Covidpatienten. Zumindest für dieses Jahr benötigen wir keine zusätzlichen Hilfen.
Die Ampel verspricht in ihrem Koalitionsvertrag einen „Aufbruch in eine moderne sektorenübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik“. Können Sie diesen Aufbruch erkennen?
Der Koalitionsvertrag enthält Licht und Schatten. Wir begrüßen eine ganze Reihe von Punkten, etwa die schnellere Digitalisierung, den Plan, die Krankenhauslandschaft zu strukturieren, oder etwa das Vorhaben, unnötige stationäre Behandlungen in Kliniken stärker ambulant zu erbringen. Die Frage ist natürlich, wie die Maßnahmen konkret umgesetzt werden. Um bei dem ambulanten Sektor zu bleiben: Hier plant die künftige Ampelkoalition sogenannte Hybrid-DRGs …
… also eine aus dem Krankenhaussektor übernommene Vergütung für den ambulanten Bereich.
Genau. Und das sehen wir skeptisch, wenn als Grundlage dann die hohen Krankenhausfallpauschalen gelten, die etwa die Vorhaltekosten für Großgeräte beinhalten. Das ist eine teure Maßnahme, deswegen schlagen wir vor, stattdessen die ambulante Vergütung als Maßstab zu nehmen. Positiv ist, dass die Ampel die Finanzlage der Kassen angehen will.
Hier verspricht der Koalitionsvertrag eine auf „lange Sicht stabile Finanzierung“. Erkennen Sie die?
Es gibt einige Maßnahmen, die darauf einzahlen. Dass die Ampel den regulären Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen von 14,5 Milliarden Euro den steigenden Ausgaben anpassen will, ist ein wichtiges Signal. Nun kommt es aber darauf an, dass der Zuwachs so festgelegt wird, dass die Inflation und die steigenden Leistungsausgaben abgebildet werden. Auch die Finanzierung der Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitslosengeld-2-Bezieher entlastet die Kassen erheblich. Aber auch hier kommt es auf Detailfragen an – etwa, ob tatsächlich die gesamten Kosten refinanziert werden, was angemessen wäre. Durch diese Maßnahmen könnten die Einnahmen dann um zehn Milliarden Euro steigen.
Reichen die Maßnahmen aus? Allein für das kommende Jahr musste der Bund die Kassen mit einem Rekordzuschuss von 28,5 Milliarden Euro stabilisieren.
Das hängt ganz entscheidend davon ab, wie die offenen Fragen umgesetzt werden. Generell sollte die gesetzliche Krankenversicherung nicht auf Dauer Bundesmittel brauchen, um ihre Defizite zu decken. Steuern sollten nur dann kommen, wenn die Krankenkassen gesamtgesellschaftliche Aufgaben stemmen müssen, wie etwa die Finanzierung der Beiträge der Arbeitslosengeldempfänger oder den Bevölkerungsschutz in der Pandemie. Diese ordnungspolitische Trennung muss die Ampel sauber vollziehen. Und sie muss an weitere Ausgaben ran. Hier ist der Krankenhaussektor ein ganz entscheidender Punkt. Es ist ja gerade in der Pandemie deutlich geworden, dass Fälle in spezialisierten Häusern behandelt werden müssen und es nicht darauf ankommt, überall ganz viele Krankenhäuser zu haben.
Können die Beiträge der Versicherten mit diesen Maßnahmen in den kommenden Jahren stabil bleiben?
Für 2022 ist der Zusatzbeitrag durch den ergänzenden Bundeszuschuss ja stabilisiert worden. Was die darauffolgenden Jahre angeht, da muss die Ampel wohl noch nachlegen. Neben den angesprochenen Punkten hätte sie etwa auch die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel auf sieben Prozent senken sollen. Wir bedauern, dass es dazu nicht gekommen ist. Diese Maßnahme hätte fünf bis sechs Milliarden Euro gebracht …
… die aber an anderer Stelle im Staatshaushalt gefehlt hätten.
Richtig. Aber die im Koalitionsvertrag geplanten Maßnahmen allein reichen möglicherweise nicht, um das Defizit aufzufangen. Deshalb kann man zum gegenwärtigen Zeitpunkt steigende Beiträge ab 2023 seriös nicht ausschließen.
In der Pflege können sich Versicherte auf höhere Beiträge einstellen, sie sollen nach dem Willen der Ampel „moderat“ steigen. Damit wäre das 40-Prozent-Ziel bei den Sozialversicherungsbeiträgen Geschichte.
Das Ziel ist ja ein Versprechen der Großen Koalition, die bald nicht mehr im Amt sein wird. Inwiefern sich die künftige Ampelkoalition daran gebunden fühlt, vermag ich nicht zu sagen. Wir müssen uns generell fragen, welche Beiträge zumutbar sind. Offenbar will die Ampel höhere Beiträge in Kauf nehmen, um zumindest die Pflegeversicherung besser zu finanzieren.
Welche Höhe der Sozialversicherungsbeiträge halten Sie für zumutbar?
Es macht auf Dauer keinen Sinn, solche Grenzen einzuziehen. In den 60er-Jahren lagen die Beiträge für die Krankenversicherung bei weniger als der Hälfte von heute. Und damals hieß es bereits, dass die Belastbarkeit überschritten sei. Das ist eine gesellschaftliche Entscheidung, die wir davon abhängig machen müssen, welche Leistungen wir finanzieren wollen – und welche nicht. Diese Balance lässt sich nicht dauerhaft mit einer Zahl festlegen. Denn immerhin geht es um die Versorgung von 73 Millionen gesetzlich Versicherten.
Mehr: Länder erhöhen Druck auf Ampelkoalition – Ruf nach bundesweiter Corona-Notbremse
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Ja, Strukturreform in der GKV ist überfällig: Die Leistungen zu 98% gleich, die Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds gedeckelt, da braucht es keine ~110 GKV, da reicht *eine einzige*.
Schon hat man wieder ein paar Milliarden gespart....
"Angesichts der dramatischen Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) .."
Es ist keine dramatische Finanzlage der GKV, sondern eine dramatische Finanzlage des Bundes wenn der Bund von den über 70 Mrd. versicherungsfremden Leistungen nur 14 Mrd. erstatten will und den Rest einseitig dem Beitragszahler aufbrummt.
Das ist ein Schattenhaushalt, der nicht von der GKV oder den Patienten verursacht ist sondern diesem ohne Gegenleistung bezahlt werden soll.
Auch Beamte müssen einzahlen.
Die Gehälter der obersten Gehaltsklasse kürzen.
Damit sind steigende Versicherungsbeiträge erledigt.
Wie heißen die Politiker die dieses Befürworten?
Ich kenne namentlich 12 Personen, mehr nicht.