Bundesarbeitsgerichts-Präsidentin Schmidt: Politik hat bei 24-Stunden-Pflege die Augen geschlossen.
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Interview mit Ingrid SchmidtOberste Arbeitsrichterin: „Es reicht nicht, nur Gendersternchen zu befürworten“
Die scheidende BAG-Präsidentin kritisiert die Personalpolitik der Wirtschaft. Zudem spricht sie über das wegweisende Urteil zur 24-Stunden-Pflege und Datenschutz im Homeoffice.
Die Juristin ist seit 2005 Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts. Im Herbst endet ihre Amtszeit.
(Foto: picture alliance/dpa)
Berlin Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG), Ingrid Schmidt, fordert Unternehmen auf, eine aktive Personalpolitik zu betreiben: Es gelte, geeignete Frauen für Führungspositionen zu finden, zu fördern und zu halten. „Es reicht nicht, nur Gendersternchen zu befürworten“, sagte Schmidt dem Handelsblatt.
Im Jahr 2005 war Schmidt als erste Frau auf ihren Posten gekommen, ihre Amtszeit endet im September. Auch eine Quotenregelung mache das Problem nur sichtbar, mehr nicht.
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie werden die Arbeitsgerichtsbarkeit wahrscheinlich nicht mehr in größerem Umfang beschäftigen, erwartet Schmidt. Sollte eine rasche wirtschaftliche Erholung ausbleiben, könne es noch vermehrt zu betriebsbedingten Kündigungen und entsprechenden Klagen kommen. Sie erwarte das allerdings nicht.
Handlungsbedarf für die künftige Bundesregierung sieht sie vor allem im Bereich der häuslichen Pflege durch sogenannte 24-Stunden-Betreuungskräfte. Das Bundesarbeitsgericht hatte kürzlich entschieden, dass diesen der Mindestlohn zusteht – und zwar auch für Bereitschaftszeiten.
Vita
Die in Bürstadt geborene Juristin begann ihre Karriere Mitte der 1980er-Jahre in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit, wurde zeitweise als wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet und wechselte im August 1994 zum Bundesarbeitsgericht.
Ingrid Schmidt wurde im März 2005 zur Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts ernannt. Im September endet die Amtszeit der 65-Jährigen, die als erste Frau an der Spitze des Erfurter Gerichts steht. Als Vorsitzende des 1. Senats hat sie unter anderem am berühmten Flashmob-Urteil mitgewirkt: Wenn Gewerkschafter Einkaufswagen füllen und unbezahlt an der Supermarktkasse stehen lassen, ist das eine legitime Form des Arbeitskampfs, entschied das Gericht 2009.
„Schon vorher musste jedem klar sein, dass bezahlbare Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch eine Person in einem Haushalt nur bei massiven Verstößen gegen das Arbeitszeitrecht und bei Vorenthaltung des gesetzlichen Mindestlohns möglich ist“, sagte Schmidt. „Aber alle Verantwortlichen haben die Augen geschlossen und sich auf das Wohlstandsgefälle in der EU verlassen.“
Lesen Sie hier das vollständige Interview mit der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts:
Frau Schmidt, es scheint, dass bei Corona das Schlimmste überstanden ist. Aber glauben Sie, dass die Pandemie die Arbeitsgerichtsbarkeit noch größer beschäftigen wird? Das hängt von der wirtschaftlichen Entwicklung ab und davon, ob es noch vermehrt zu betriebsbedingten Kündigungen kommt, was ich aber nicht glaube. Denkbar sind aber Konflikte um Test- und Impfpflichten oder die Lohnfortzahlung bei Quarantäneanordnung.
Was ist mit der Kurzarbeit? Die Kurzarbeit scheint mir nicht das Thema zu sein. Hier hielten sich die Rechtsstreitigkeiten nach der Finanzkrise in sehr engen Grenzen, und das wird nach Covid nicht anders sein.
In den USA haben Arbeitgeber Mitarbeitern, die sich nicht impfen lassen wollen, mit Kündigung gedroht … Das wäre in Deutschland nicht so ohne Weiteres möglich, weil es keine staatliche Impfpflicht gibt. Aber wenn sich jemand, beispielsweise im Gesundheitswesen, beharrlich weigert, dann heißt es wohl, testen, testen, testen. Und dann geht der Streit los: vor der Arbeitszeit, in der Arbeitszeit?
In der Krise sind Tools eingesetzt worden, die datenschutzrechtliche Fragen aufwerfen. War das okay? Viele Unternehmen oder Behörden hatten ja nur mit Einsatz dieser Tools überhaupt die Möglichkeit, den Betrieb zumindest teilweise aufrechtzuerhalten. Aber solche Zugeständnisse an den Datenschutz dürfen kein Dauerzustand werden.
Wo wir bei der digitalen Arbeitswelt sind: Müssen wir Begriffe wie „Arbeitnehmer“ oder „Betrieb“ neu definieren? Ich halte es für schwierig, den Betriebs- oder Arbeitnehmerbegriff an digitale Erfordernisse anzupassen, die bei Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens schon wieder überholt sein werden. Die Rechtsprechung kann aktuellen Entwicklungen besser Rechnung tragen. Es ist die Stärke des Arbeitsrechts, dass es sich durch unbestimmte Rechtsbegriffe seine Zukunftsfähigkeit bewahrt.
Bald ist Bundestagswahl. Welchen gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehen Sie für die neue Regierung? Einer ist durch das Urteil des 5. Senats zur 24-Stunden-Betreuung ja gerade erst offensichtlich geworden. Schon vorher musste jedem klar sein, dass bezahlbare Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch eine Person in einem Haushalt nur bei massiven Verstößen gegen das Arbeitszeitrecht und bei Vorenthaltung des gesetzlichen Mindestlohns möglich ist. Aber alle Verantwortlichen haben die Augen geschlossen und sich auf das Wohlstandsgefälle in der EU verlassen.
Häusliche Pflege
„Bezahlbare Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch eine Person in einem Haushalt ist nur bei massiven Verstößen gegen das Arbeitszeitrecht und bei Vorenthaltung des gesetzlichen Mindestlohns möglich.“
Das Urteil könnte aber dazu führen, dass Familien sich diese Art der Betreuung jetzt nicht mehr leisten können und die osteuropäischen Frauen ihren Job verlieren. Deshalb können Sie das nicht nur arbeitsrechtlich sehen, sondern müssen es auch über die Pflegeversicherung angehen. Der Staat hat die Augen ja nicht umsonst verschlossen. Der hat die Augen verschlossen, weil es zu wenige Betreuungseinrichtungen und zu wenig Personal gibt und der Finanzbedarf der Pflegeversicherung steigt – die Herausforderungen also gewaltig sind.
Sollte die noch nicht umgesetzte Regulierung sachgrundlos befristeter Jobs wieder auf die Agenda? Ach, bei der sachgrundlosen Befristung muss man sich irgendwann einfach mal entscheiden, ob man sie zulassen will oder nicht. Alles Herumdoktern bringt da wenig. Wäre die Quotenregelung aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt worden, hätte sie eine enorme Rechtsunsicherheit produziert. Rechtssicher könnten die Dauer oder die Verlängerungsmöglichkeiten verkürzt oder bei Abschaffung alternativ die Probezeit nach dem Kündigungsschutzgesetz verlängert werden.
Politisch noch nicht umgesetzt ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung. Muss die nächste Regierung da ran? Ehrlich gesagt, sehe ich da kein echtes Problem. Bei Schichtarbeit wird die Arbeitszeit ohnehin aufgezeichnet. Auch bei der Vertrauensarbeitszeit entfällt die nach Paragraf 16 Absatz 2 des Arbeitszeitgesetzes gesetzlich bereits geregelte Aufzeichnungspflicht nicht, sondern ist an den Arbeitnehmer delegiert, dem die Art und Weise der Dokumentation bloß vorzugeben ist.
Unternehmen müssen eine aktive Personalpolitik betreiben, um geeignete Frauen für Führungspositionen zu finden, zu fördern und zu halten. Ingrid Schmidt, Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts
Sie sind die erste Frau an der Spitze des Bundesarbeitsgerichts und haben als Frau und Mutter Karriere gemacht. Sind wir bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf heute weiter als zu Beginn Ihrer Laufbahn? Seltsam, einem Mann in vergleichbarer Position wird nie die Frage gestellt, wie er es mit zwei Kindern dahin gebracht hat. Und die Reihenfolge ist falsch: Es muss Vereinbarkeit von Beruf und Familie heißen. Aber ernsthaft: Die Tatsache, dass Sie heute noch so eine Frage stellen, zeigt, dass wir nicht da sind, wo wir sein sollten. Frauen sind weiter benachteiligt, weil Vorbehalte wegen beruflicher Ausfallrisiken durch Geburt, Kinderbetreuung und Pflege bestehen.
Brauchen Frauen also weiter „Nachhilfe“ über Quoten? Nicht die Frauen brauchen Nachhilfe, sondern die Personalverantwortlichen. Eine Quotenregelung macht das Problem nur sichtbar, mehr nicht. Es reicht nicht, nur Gendersternchen zu befürworten. Unternehmen müssen eine aktive Personalpolitik betreiben, um geeignete Frauen für Führungspositionen zu finden, zu fördern und zu halten.
Sie haben sich in Ihrer Amtszeit viel mit dem Arbeitskampfrecht beschäftigt. Hat sich hier eine Schieflage zugunsten der Arbeitnehmer entwickelt? Das sehe ich nicht so. Es ist immer noch so, dass die Arbeitnehmerseite strukturell unterlegen ist – je nach Arbeitsmarktlage mal mehr und mal weniger. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Aber es ist die Aufgabe des Gesetzgebers und der Rechtsprechung, das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern immer wieder angemessen auszutarieren.
Das Bundesarbeitsgericht und das Bundesverfassungsgericht haben beispielsweise entschieden, dass VerdiAmazon-Mitarbeiter auf dem Parkplatz direkt vor dem Betrieb ansprechen und zum Streik auffordern darf … In dem Fall wurden wenige Quadratmeter eines 30.000 Quadratmeter großen Parkplatzes von der Gewerkschaft in Anspruch genommen, ohne dass der Zugang zum Betrieb behindert wurde oder die Parksituation sich verschlechterte. Wo soll Verdi denn Beschäftigte sonst ansprechen im Umfeld von Logistikzentren, die irgendwo auf der grünen Wiese stehen? Das Bundesarbeitsgericht hat das dortige Kampfszenario aus verfassungsrechtlichen Gründen gebilligt; das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsauffassung bestätigt. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Rechtsprechung zum Arbeitskampf nicht in Stein gemeißelt sein kann, weil deren Rahmenbedingungen ständigen Änderungen unterworfen sind. Wenn es nicht gelingt, das Grundrecht zukunftsoffen zu gestalten, dann geht es ein wie eine Pflanze ohne Wasser.
1 Kommentar zu "Interview mit Ingrid Schmidt: Oberste Arbeitsrichterin: „Es reicht nicht, nur Gendersternchen zu befürworten“"
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Herr_EN Olaf Scholz
Warum sollte die BAG-Präsidentin als oberste der ganzen Arbeitsgerichte auch anders drauf sein als die ganzen Richter an den Arbeitsgerichten? Ein Austarieren des Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist doch für den Gesetzgeber gar nicht mehr erforderlich. Die Arbeitsgerichte tun das schon von selbst. Und zwar beugen sie die Gesetzte so in Richtung Arbeitnehmer, dass man schon an den Grundrechten dieses Staates zweifelt bei den Urteilen.
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Warum sollte die BAG-Präsidentin als oberste der ganzen Arbeitsgerichte auch anders drauf sein als die ganzen Richter an den Arbeitsgerichten? Ein Austarieren des Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist doch für den Gesetzgeber gar nicht mehr erforderlich. Die Arbeitsgerichte tun das schon von selbst. Und zwar beugen sie die Gesetzte so in Richtung Arbeitnehmer, dass man schon an den Grundrechten dieses Staates zweifelt bei den Urteilen.