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Interview Norbert Walter-Borjans: „Kevin ist ein Mann des Ausgleichs“

Der scheidende SPD-Chef über den richtigen Schlusspunkt, die Vermittlungsfähigkeit des designierten Generalsekretärs Kevin Kühnert und die Erwartungen an den neuen Finanzminister Lindner.
10.12.2021 - 04:00 Uhr 1 Kommentar
Linker Flügel: Kevin Kühnert hat Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken (v.l.) im Kampf um den Parteivorsitz unterstützt. Quelle: imago images/IPON
SPD

Linker Flügel: Kevin Kühnert hat Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken (v.l.) im Kampf um den Parteivorsitz unterstützt.

(Foto: imago images/IPON)

Berlin Der scheidende SPD-Parteichef Norbert Walter-Borjans hat den neuen Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) gelobt. „Ich glaube, das Ampelmotto ‚Fortschritt wagen‘ und die Sachzwänge des Amtes sind Christian Lindner durchaus bewusst. Er ist bekennender Teil einer Koalition, die den Aufbruch in die Zukunft will“, sagte Walter-Borjans dem Handelsblatt. „Glauben Sie mir: Wenn der Ampel auf halber Strecke Geld fehlen sollte, wird die FDP nicht fordern, auf wichtige Investitionen zu verzichten.“

Walter-Borjans lobte auch Kevin Kühnert, der am Samstag auf dem SPD-Bundesparteitag zum neuen SPD-Generalsekretär gewählt werden soll. Kühnert habe „schon als Juso-Bundesvorsitzender und erst recht als stellvertretender SPD-Vorsitzender eine kreative und zugleich ausgleichende Rolle eingenommen“, so Walter-Borjans.

In Parteisitzungen sei Kevin Kühnert oft derjenige, „der Lösungen zwischen verschiedenen Positionen aufzeigt und sich in das Ganze einordnet“. Neben Kühnert stehe auch der designierte neue SPD-Parteichef Lars Klingbeil für die „neue Kultur“ bei den Sozialdemokraten. „Er wird die Positionen der Partei deutlich machen, ohne Opposition zum Kanzleramt zu spielen“, sagte Walter-Borjans.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Walter-Borjans, am Samstag beenden Sie Ihre Karriere. Sind Sie schon wehmütig?

Ich fühle mich innerlich sehr aufgeräumt. Die Wahl eines Sozialdemokraten zum Bundeskanzler und der Start einer Bundesregierung, die Aufbruch verspricht, sind für mich einer guter Schlusspunkt. Mit 69 Jahren sollte man sich auch mal um den oft vernachlässigten Ausgleich kümmern. Joggen zum Beispiel. Das ist nicht nur während der Koalitionsverhandlungen deutlich zu kurz gekommen.

Aber muss nicht gerade jetzt das Parteiprofil geschärft werden, wenn die SPD den Kanzler stellt? Warum machen Sie da nicht weiter?

Die SPD darf auch künftig nicht zum bloßen Lautsprecher einer Koalitionsregierung werden, sondern muss Impulsgeber bleiben – wie das Grüne und FDP auch sein werden. Aber auch dafür ist jetzt der Zeitpunkt günstig, meine Aufgabe in die Hände eines Jüngeren zu legen. Wir pflegen Kontinuität und Wandel eben in der Sache und beim Personal.

Auf dem SPD-Parteitag tritt der 69-Jährige nicht erneut als Parteichef an. Quelle: Photothek/Getty Images
Norbert Walter-Borjans

Auf dem SPD-Parteitag tritt der 69-Jährige nicht erneut als Parteichef an.

(Foto: Photothek/Getty Images)

Saskia Esken und Sie sind bis heute in Teilen der SPD nicht als Vorsitzende akzeptiert. Wie sehr ärgert Sie das?

Als wir den Mitgliederentscheid gewonnen hatten, empfanden uns einige im politischen Berlin zweifellos als Störenfriede. Saskia Esken und ich wollten ja auch etwas ändern und gleichzeitig Brücken bauen. Mit der Zeit stieß das auf immer mehr positive Resonanz. Heute kann ich mich absolut nicht beklagen. Dass es immer Leute in einer meinungsfreudigen Partei gibt, die einen nicht unterstützen, ist absolut normal. Das ist aber kein Vergleich zur CDU und wie sie mit ihren Vorsitzenden umgeht.

Die SPD ist geschlossen wie selten zuvor. Selbst als die Partei Ende Juli bei 15 Prozent lag, herrschte Ruhe. Wie ist das gelungen?

Vielleicht ist das der wichtigste Beitrag gewesen, gerade auf der langen Durststrecke mit für diesen Zusammenhalt gesorgt zu haben. Ich bin bewusst nicht angetreten, Anspruch auf weitere Ämter zu erheben. Das macht unabhängig. Gleichzeitig wittern andere nicht bei jedem Vorschlag Konkurrenz. Früher sind in der SPD sachliche Meinungsverschiedenheiten auch deshalb immer wieder zu persönlichen Konflikten eskaliert. Das haben wir abgestellt. Wir haben gelernt, sachliche Kontroversen so zu führen, wie sich das gehört: vertraulich und kollegial. Wenn mal eine oder einer ausschert, sprechen wir das offen und um Ausgleich bemüht an. Die Kultur des Miteinanders in der Parteiführung und mit den Parteigliederungen ist anders geworden. Das müssen wir uns bewahren.

Wird dies auch dem designierten SPD-Parteichef Lars Klingbeil gelingen?

Lars Klingbeil steht genauso für diese neue Kultur in der SPD. Und er ist in der Partei exzellent vernetzt. Er wird die Positionen der Partei deutlich machen, ohne Opposition zum Kanzleramt zu spielen.

Gilt das auch für den designierten SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert? Er hätte in der Vergangenheit die Große Koalition ja am liebsten gesprengt ...

Kevin Kühnert ist in der Öffentlichkeit oft sehr klischeehaft dargestellt worden. Ich habe ein ganz anderes Bild von ihm. Er hat schon als Juso-Bundesvorsitzender und erst recht als stellvertretender SPD-Vorsitzender eine kreative und zugleich ausgleichende Rolle eingenommen. In Parteisitzungen ist Kevin Kühnert oft derjenige, der Lösungen zwischen verschiedenen Positionen aufzeigt und sich in das Ganze einordnet. Mich amüsiert köstlich, dass er uns beim Kampf um den Parteivorsitz angeblich so intensiv gecoacht haben soll ...

.... na ja, die Szene in der entsprechenden Kevin-Kühnert-Dokumentation ist schon sehr eindrücklich ...
... natürlich haben Saskia Esken und ich uns mit Kevin Kühnert zusammengesetzt und überlegt, wie wir Dinge auf den Punkt formulieren können. Wir hatten damals nur wenige Minuten für unsere Vorstellung. Das wäre ohne strikte Dramaturgie gar nicht gegangen. Dafür hatten wir ein tolles Team – mit Kevin und anderen. Aber meinen Kompass habe ich schon selber mitgebracht. Das wusste auch Kevin (lacht).

Sie haben im Kampf um den Parteivorsitz Olaf Scholz als Kompromiss auf zwei Beinen dargestellt. Wieso soll nun ausgerechnet Scholz der Kanzler für einen Aufbruch sein?

Partei- und Regierungschef begegnen sehr unterschiedlichen Erwartungen. Der eine ist Chef einer Koalition und muss Kompromisse suchen, die nicht verwässern, sondern uns voranbringen. Der andere muss das Profil des einen Teils der Koalition schärfen. Da darf der Kompromiss nicht Ausgangspunkt sein. Das war bis vor zwei Jahren oft der Fall, auch deshalb hat damals ein Teil der SPD-Mitgliedschaft mit dem Establishment gefremdelt. Für mich bestand nie ein Zweifel daran, dass Olaf Scholz ein klares sozialdemokratisches Grundgewebe hat. Sein Herzblut hat immer sozialdemokratischer Politikpraxis wie bezahlbarem Wohnraum, fairen Löhnen und stabilen Renten gegolten. Er kann konträre Positionen zusammenführen und verhandelt mit seinem Gegenüber auf Augenhöhe, ohne seine Prinzipien aufzugeben. Das alles macht ihn zu einem guten Kanzler – vor allem in dieser Zeit.

Bei Ihrem Herzblut-Thema, der Steuerpolitik, geht unter der Ampel nichts voran.

Die Zugeständnisse, die wir hier machen mussten, schmerzen mich ganz besonders, keine Frage. Aber wir haben mehr erreichen können als mit den Bremsern von CDU und CSU. SPD, Grüne und FDP eint die Haltung, massiv investieren zu wollen. Der Ausbau alternativer Energien, die Digitalisierung, die Verkehrswende, das will alles bezahlt werden. Ich sage Ihnen voraus: Am fehlenden Geld werden diese Projekte nicht scheitern.

Und das sieht auch der Finanzminister so?

Natürlich. Wir beschreiten im Koalitionsvertrag neue Wege in der Haushaltspolitik. Wir bauen eine Klima-Rücklage auf, stärken öffentliche Unternehmen wie die KfW und werden die Schuldenbremse so nutzen, wie sie gedacht ist – als Rahmen für solide Staatsfinanzen, ohne sie zur Investitions- und Zukunftsbremse werden zu lassen. Glauben Sie mir: Wenn der Ampel auf halber Strecke Geld fehlen sollte, wird die FDP nicht fordern, auf wichtige Investitionen zu verzichten. Sozialabbau als Gegenfinanzierung würde mit der SPD nicht gehen.

„Kevin Kühnert ist in der Öffentlichkeit oft sehr klischeehaft dargestellt worden.“ Quelle: imago images/Political-Moments
Kevin Kühnert neben Olaf Scholz

„Kevin Kühnert ist in der Öffentlichkeit oft sehr klischeehaft dargestellt worden.“

(Foto: imago images/Political-Moments)

Wird Lindner also ein guter Finanzminister?

Ich glaube, das Ampelmotto „Fortschritt wagen“ und die Sachzwänge des Amtes sind Christian Lindner durchaus bewusst. Er ist bekennender Teil einer Koalition, die den Aufbruch in die Zukunft will.

Ist der finanzpolitische Paradigmenwechsel hin zu höheren und schuldenfinanzierten Investitionen, auf den Sie seit Jahren drängen, damit jetzt auch in der Politik angekommen, wenn die FDP den neuen Kurs mittragen sollte?
Wenn man in die Zukunft investiert, ist es völlig legitim, dass die künftige Generation, die den Nutzen davon hat, auch ein Stückchen zur Last beiträgt. Hier finde ich die Liberalen im Grundverständnis deutlich fortschrittlicher als die Konservativen. Viele Finanzchefs von Unternehmen können weder verstehen, warum der Staat für fundamental wichtige Investitionen nicht mehr Geld in die Hand nimmt, noch warum das an der Rigidität einer selbst gewählten Schuldenregel scheitert. Die sagen: Hätten wir solche Regeln aufgestellt, die uns die Geschäftsgrundlagen von morgen entziehen, wären wir unseren Job schon lange los.

Eine große Reform, um die sich Lindner wird kümmern müssen, wird die Reform die EU-Schuldenregeln sein. Sollte Lindner sie lockern?

Die Schuldenobergrenze von 60 Prozent ist in Krisenzeiten ein Stück weit von der Realität überholt worden. Die Staaten liegen inzwischen weit über der Grenze, das muss jeder zur Kenntnis nehmen. Gleichzeitig verstehe ich Kritiker, die davor warnen, einfach per se die Schuldengrenze aufzuweichen. Ohne gemeinschaftlich getragene Haushaltsaufstellungs- und -kontrollvereinbarungen bleibt die EU-Finanzierung Stückwerk. Wir brauchen Regeln, um in Europa auf lange Sicht einen Ausgleich nach dem Vorbild des deutschen Länderfinanzausgleichs zu schaffen. Alles andere brächte die europäische Integration nicht weiter.

Noch ein anderes Thema: Vergangene Woche gab es einen Fackelaufzug vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin. Hat die Verrohung in der Gesellschaft zugenommen?

Eindeutig ja, und ich mache mir darüber große Sorgen. Ein Fackelzug ist die Methode von Faschisten. Da geht es um Einschüchterung unter Inkaufnahme realer Bedrohung. Wir dürfen nicht zulassen, dass Extremisten den Staat straflos verhöhnen können. Ein halbherziger Umgang wäre als Signal verheerend.

Was müsste konkret geschehen?

Diese angeblichen Demonstranten müssen die ganze Härte des Rechtsstaats spüren. Früher blieb Hetze am Stammtisch, heute wird sie über soziale Netzwerke verbreitet. So, wie es Verkehrsregeln gibt, brauchen wir Regeln für soziale Netzwerke. Und grundsätzlich würde ich mir einen anderen Umgang miteinander wünschen, auch wenn man unterschiedlicher Meinung ist. Ich habe als NRW-Finanzminister bei der Diskussion um das Schweizer Steuerabkommen hart mit dem Schweizer Botschafter gerungen. Aber daraus ist eine persönliche Freundschaft entstanden, die bis heute anhält.

Sie haben 2011 das Steuerabkommen verhindert, weil es aus Ihrer Sicht zu nachsichtig mit Steuersündern umging. Als was bleiben Sie lieber in Erinnerung? Als „Steuer-Robin-Hood“ oder als Kanzlermacher?

Als kanzlermachender Steuer-Robin-Hood (lacht). Im Ernst: Ich freue mich über den Zuspruch, den ich als eine Art verbindendes Element nicht erst seit Ankündigung meines Abschieds erfahre. Steuer- und Verteilungsthemen sind meine Leidenschaft. Ich werde mich weiter damit beschäftigen und wo gewünscht einbringen. Aber ganz sicher nicht so, dass ich meinen Nachfolgern damit in Talkshows auf den Wecker gehe.

Herr Walter-Borjans, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Olaf Scholz - wer ist der Mann, der zum neunten Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde?

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  • War es nicht der Kevin, der BMW verstaatlichen wollte? Ein BMW fuer jeden Bundesbuerger
    waere eine deutliche Verbesserung unserer Lebensqualitaet.

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