Interview Politikwissenschaftler Korte: „Die Union steckt im Visionsvakuum“

Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers muss das Wahlrecht für den Bundestag reformiert werden.
Berlin Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, sieht in den Resultaten der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ein Warnsignal für CDU und CSU. Dabei geht es aus seiner Sicht weniger um die Frage, ob nun Armin Laschet von der CDU oder Markus Söder von der CSU der gemeinsame Kanzlerkandidat der Union wird.
„Ohne eine Führungserzählung, ohne Führungsbereitschaft, ohne solide programmatische Alleinstellungsmerkmale braucht die Union überhaupt keinen Kanzlerkandidaten“, sagte Korte im Gespräch mit dem Handelsblatt. Am Wochenende sei sichtbar geworden, dass die CDU „kein festes Abo“ auf das Kanzleramt habe.
Der Politikwissenschaftler rechnet damit, dass die Grünen mit einem „Kandidaten-Tandem“ in den Bundestagswahlkampf ziehen und erst nach der Bundestagswahl entscheiden werden, wer die Nummer eins der aufstrebenden Ökopartei wird.
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Herr Korte, die CDU hat so schlecht abgeschnitten wie nie zuvor – allein die SPD hat in Rheinland-Pfalz ihr vergleichsweise niedriges Niveau unter Malu Dreyer halten können. Erleben wir mit Blick auf die Volksparteien eine Zeitenwende im deutschen Parteiensystem?
Politische Parteien, die es schaffen, rund 30 Prozent der Wähler zu binden und Regierungen zu bilden, sind Volksparteien. In Rheinland-Pfalz erleben wir die politische Landkarte doch noch so wie in der alten Bundesrepublik: mit SPD und CDU als führende Großparteien. In Baden-Württemberg haben sich die Grünen, lange vor anderen Landesverbänden, den Status der Volkspartei erarbeitet und ihn ausgebaut.
Die CDU nennt als Gründe für die jüngsten Niederlagen die Maskenaffäre und das Corona-Management sowie den Umstand, dass Wahlkampf kaum möglich war und die Amtsinhaber somit im Vorteil waren. Wie stichhaltig sind solche Argumente?
In der Distanz-Demokratie zu wählen ist neu. Die Ausnahmezeiten setzen alle unter Druck. Meinungsbildung konnte nur allein erfolgen, nicht wie gewohnt in Gemeinschaft oder Gruppen. Die Corona-Prämie fahren die ein, die sichtbar waren und gehandelt haben. Aber das Risiko ist hoch, wie man an der CDU sieht. Stimmungsverfinsterung durch wahrgenommenes Missmanagement oder Skandale schlägt sich dann auch sofort im Abstrafen der sichtbar Verantwortlichen nieder.
Wie wirken sich die Ergebnisse in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz auf die Frage aus, ob Armin Laschet oder Markus Söder Kanzlerkandidat der Union wird?
Das Ergebnis hat keinen Einfluss auf die Auswahl der Kanzlerkandidaten, denn es kam nicht wirklich überraschend für die Unionsspitze. Wichtiger ist der Weckruf, der vom Wahlsonntag ausgeht: Ohne eine Führungserzählung, ohne Führungsbereitschaft, ohne solide programmatische Alleinstellungsmerkmale braucht die Union überhaupt keinen Kanzlerkandidaten. Es gibt kein festes Abo auf das Kanzleramt für die Staatspartei CDU. Das ist am Wochenende sichtbar geworden. Früh genug, um die Union vom Visionsvakuum abzubringen.
Wie viele Kanzlerkandidaten wird es realistischerweise bei der Bundestagswahl geben?
Ich rechne neben Olaf Scholz von der SPD mit einem Kandidaten der Union. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Grünen ein Kandidaten-Tandem präsentieren und sich erst nach dem Wahltag entscheiden, wer welche Verantwortung übernehmen sollte.
Eine kleine Begleiterscheinung gab es am Sonntag: Achtungserfolge der Freien Wähler. Sehen Sie das Potenzial für eine neue bundesweit aktive Bewegung, wie sie die Freien Wähler diskutieren?
Nein, die Freien Wähler punkteten in kommunaler Verantwortung, weil die Ausnahmezeiten deutlicher als je zuvor die Zentralität der Daseinsvorsorge aufzeigen. Wie weit entfernt ist der nächste Arzt? Fährt ein Bus? Die Zuständigkeiten der Kommune im Umgang mit der Pandemie förderten die Unterstützung des Selbsthilfecharmes, der von Freien Wählern ausgeht.
Zuletzt eine Frage zum Wahlrecht: Bedarf es einer grundlegenden Reform angesichts der Schwäche der Volksparteien, damit der Bundestag nicht immer weiter anwächst und noch mehr als die eigentlich vorgesehenen 598 Abgeordneten unterbringen muss?
Das Wahlrecht für den Bundestag muss reformiert werden, um ihn praktikabel und repräsentativ zu erhalten. Auch mit mehr als zwei großen Parteien muss es möglich sein, ein Umrechnungsverfahren zu nutzen, das eine Supergröße des Bundestags verhindert.
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