Interview „Wir müssen an die Ausgaben ran“ – TK-Chef Baas warnt vor Beitrags-Explosion bei der Krankenversicherung

„Fällt die 40-Prozent-Marke erst einmal, könnten die Beiträge schnell steigen.“
Berlin Der Chef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, hat die Ampelparteien zu tief greifenden Reformen der gesetzlichen Krankenversicherung aufgefordert. „Das Geld ist weg, deswegen muss die Ampel schnell handeln“, sagte Baas dem Handelsblatt.
Der Bund stützt die gesetzlichen Krankenkassen allein im kommenden Jahr mit einem Rekordzuschuss von 28,5 Milliarden Euro. „Die neue Bundesregierung wird den Bundeszuschuss weiter hoch halten müssen“, sagte Baas.
„Gleichzeitig ist aber auch zu befürchten, dass sie die Beiträge leicht steigen lassen wird und damit die Sozialgarantie innerhalb der nächsten vier Jahre beerdigt.“ Die Sozialgarantie besagt, dass die Sozialbeiträge die Marke von 40 Prozent nicht überschreiten. „Fällt die Marke erst einmal, könnten die Beiträge schnell steigen“, bemerkte Baas.
„Deswegen ist mein Plädoyer: Wir müssen an die Ausgaben ran. In den vergangenen acht Jahren wurde das System nur teurer.“ Baas forderte unter anderem eine Reform der Krankenhausstruktur mit weniger Klinikbetten und Sofortmaßnahmen für geringere Pharmapreise.
Außerdem kritisierte der TK-Chef das von den Ampelparteien geplante Auslaufen der epidemischen Lage. „Das halte ich für schwierig, gerade vor dem Winter“, sagte Baas dem Handelsblatt. „Es entsteht der falsche Eindruck eines Mini-Freedom-Day – dabei wird es weiter Restriktionen geben müssen.“
Das ganze Interview lesen Sie hier:
Herr Baas, die Corona-Fallzahlen steigen rasant. Wie gefährlich wird die vierte Welle für das Gesundheitssystem?
Ich blicke besorgt auf die steigenden Neuinfektionen und die knapper werdenden Intensivkapazitäten. Zu viele Menschen sind noch nicht geimpft. Das bereitet einen großen Nährboden für das Coronavirus. Ich hatte gehofft, dass die Impfquote im Herbst deutlich höher sein würde.
Erfordert die Lage, dass der Corona-Rettungsschirm für Krankenhäuser verlängert wird? Er endet im neuen Jahr.
Wenn wegen der Belegung der Intensivstationen andere Behandlungen ausgesetzt werden müssen und dies Kliniken in finanzielle Nöte bringt, sollte er tatsächlich verlängert werden. In dieser Situation sind wir aber noch nicht. Außerdem muss sichergestellt sein, dass nur betroffene Kliniken profitieren. Das war anfangs nicht so.

Baas warnt angesichts steigender Inzidenzen vor einer Lockerung der Corona-Maßnahmen.
Begrüßen Sie den Plan der Ampelparteien, die epidemische Lage auslaufen zu lassen?
Das halte ich für schwierig, gerade vor dem Winter. Es entsteht der falsche Eindruck eines Mini-Freedom-Day – dabei wird es weiter Restriktionen geben müssen. Der Schritt führt eigentlich nur dazu, dass Coronamaßnahmen national und regional erschwert werden und eine einheitliche Linie fehlt.
Maßnahmen wie eine Maskenpflicht und eine 2G- und 3G-Regel sollen allerdings weiter möglich sein.
Richtig, und das finde ich auch wichtig. Die Frage ist, ob die Maßnahmen ausreichen. Regional könnte es zeitweise durchaus zu einer Art Mini-Lockdown für Ungeimpfte kommen, um einen allgemeinen Lockdown zu vermeiden – also eine verpflichtende 2G-Regel, wenn die Intensivstationen an ihre Grenzen geraten. Durch das Ende der epidemischen Lage können solche Regeln nicht mehr so einfach umgesetzt werden.
Welche Erwartungen haben Sie an ein Ampelbündnis?
Die Ampel muss das Gesundheitssystem zukunftsfest machen und darf sich nicht im Klein-Klein verlieren. Der Koalitionsvertrag muss drei wesentliche Punkte beinhalten: Die Krankenhauslandschaft muss reformiert, die Digitalisierung in die breite Versorgung gebracht und die Finanzierung nachhaltig gesichert werden. Bei der Digitalisierung hat die Große Koalition zwar viel vorangebracht, bei den Finanzen war es eher ein Fiasko. Das Geld ist weg. Deswegen muss die Ampel schnell handeln.
Das klingt nach einer großen Reform. Das Sondierungspapier hatte gesundheitspolitisch aber wenig zu bieten.
Ja, Gesundheitspolitik scheint aktuell nicht hoch im Kurs zu stehen. Im Vordergrund stehen die Themen Ökologie und die übergeordnete Finanzpolitik. Das sind natürlich wichtige Fragen, ich verstehe allerdings nicht, warum selbst Themen wie das Tempolimit intensiver diskutiert werden als die Herausforderungen des Gesundheitssystems.
Klar ist zumindest, dass es den Systemwechsel hin zu einer Bürgerversicherung nicht geben wird. Eine vertane Chance?
Ja. Ich bin zwar kein Fan der klassischen Bürgerversicherung – aber von der Idee, das Beste aus privater und gesetzlicher Krankenversicherung zu vereinen. Ein einheitlicher Markt wirkt auch positiv auf die Verteilung von Angeboten: Wir haben heute etwa viel mehr Fachärzte in wohlhabenden Gegenden. Warum? Die Ärzte gehen dorthin, wo möglichst viele Privatpatienten sind, aber nicht die echten Probleme. Das würde ein einheitliches System besser steuern.
Auf welches Finanzloch in der gesetzlichen Krankenversicherung muss sich die Ampel einstellen?
Der Bund muss die gesetzliche Krankenversicherung für das kommende Jahr mit 28,5 Milliarden Euro stützen, so viel wie noch nie. Lässt die Ampel das einfach laufen, steigt dieser Zuschuss jedes Jahr. Das hält kein System auf Dauer aus. Stark steigende Beiträge für die Versicherten sind aber auch keine Lösung. Deshalb bleibt eigentlich nur der Weg, der politisch deutlich unbeliebter, aber dringend nötig ist: Kosten sparen.
Worauf wird es hinauslaufen?
Ich glaube, dass es auf eine Mischung hinauslaufen wird. Die neue Bundesregierung wird den Bundeszuschuss weiter hoch halten müssen. Gleichzeitig ist aber auch zu befürchten, dass sie die Beiträge leicht steigen lassen wird und damit die Sozialgarantie innerhalb der nächsten vier Jahre beerdigt.
Sie meinen die Garantie, dass die Sozialbeiträge die Marke von 40 Prozent nicht überschreiten. Wo ist dann die Grenze? Die Sorge ist, dass die Beiträge dann ausufern.
Das ist genau die Herausforderung, vor der die Ampel steht. Fällt die Marke erst einmal, könnten die Beiträge schnell steigen. Wahr ist aber auch, dass wir die 40-Prozent-Marke nicht halten können, wenn wir nicht sparen. Deswegen ist mein Plädoyer: Wir müssen an die Ausgaben ran. In den vergangenen acht Jahren wurde das System nur teurer. Das rächt sich nun.
Wo würden Sie sparen?
Der größte Batzen ist die Krankenhausstruktur. Deutschland steht in Europa in Bezug auf Krankenhausbetten je Einwohner weit vorne.
Die Befürworter sagen: Das hat uns bei Corona geholfen.
Das stimmt nicht. Der Großteil der Krankenhausbetten war ja nicht mit Coronapatienten belegt, viele standen sogar leer. Und es geht auch nicht darum, die Intensivbettenkapazitäten zu kürzen.

„Wir gehen davon aus, dass mindestens 100.000 Krankenhausbetten überflüssig sind.“
Sondern?
Es geht um Betten, die für andere Dinge vorgehalten werden, auch für unnötige. Zu viele Betten machen die Versorgung nicht besser, sondern schlechter, weil jeder Krankenhausmanager dafür verantwortlich ist, sie zu füllen. Patienten müssen deshalb teilweise aus wirtschaftlichen Gründen Operationen über sich ergehen lassen, die medizinisch nicht notwendig sind oder ambulant durchgeführt werden könnten. Das ist nicht im Interesse der Patientinnen und Patienten und produziert natürlich vollkommen unnötige Kosten.
Schaut man sich die Wahlprogramme der Ampelparteien dazu an, könnte es auf eine Neuordnung hinauslaufen.
Eine Reform muss berücksichtigen, welche Kliniken wir wo brauchen: Unikliniken etwa müssen ihre spezialisierten Aufgaben finanziert bekommen. Basisversorgung auf dem Land hat dagegen ganz andere Anforderungen. Dort müssen die Krankenhäuser ein Grundangebot ebenso wie die Erstversorgung bei Notfällen absichern und dafür Geld bekommen. Überregionale Schwerpunktversorger hingegen liegen dazwischen.
Wie viele Klinken müsste eine Ampelkoalition schließen?
Es gibt in Deutschland rund 500.000 Betten. Wir gehen davon aus, dass mindestens 100.000 davon überflüssig sind. Zum einen sind die Betten im Schnitt nur zu 77 Prozent ausgelastet. Zum anderen schätzen wir, dass jede fünfte Krankenhausbehandlung nicht stationär erfolgen müsste. Die Frage ist nicht, wie viele Häuser überflüssig sind, sondern was wir vor Ort für die Versorgung brauchen.
Das klingt nach Investitionen, nicht nach Sparmaßnahmen.
Ja, ein Umbau wird Milliarden kosten. Aber das ist gut angelegtes Geld, weil wir dadurch die Menschen besser versorgen und gleichzeitig langfristig viel Geld sparen. Wirksame Sofortsparmaßnahmen sind etwa bei den Pharmapreisen möglich, zum Beispiel, indem man einen höheren verpflichtenden Herstellerrabatt einführt oder eine niedrigere Mehrwertsteuer auf Medikamente. Außerdem hilft die Digitalisierung, die Verwaltung schlanker und günstiger zu machen, die leider immer noch quasi vollständig auf Papier läuft.
Mehr: Bis 2030 droht ein Anstieg auf 45 Prozent – Gutachten warnt vor Kostenexplosion bei Sozialbeiträgen
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@Helmut Metz
Mit Hilfe der neuen Kinder-Grund-Sicherung wird es wahrscheinlich mehr Kinder geben. Somit kann man nicht mal bei Geburtshilfe sparen. Nebenbei bemerkt: Wenn man 8 Kinder zeugt, kann man fast zu arbeiten aufhören, evtl. wird auch noch eine Haushaltshilfe von der Gemeinde gestellt werden müssen, denn mit 8 Kindern und einem Macho-Mann mit Gebetskette hat eine Frau wirklich viel Arbeit und nicht jede schafft das. Es geht doch um das Kindeswohl.
Für Ihre Krankenkasse, Herr Baas, bei der ich auch vesichert bin, hat - was mich persönlich betrifft - dieses Jahr keine unnötige Krankenhausbehandlung voll reingehauen, sondern zwei lange Krankenscheine wegen unerträglicher Arbeitsbedingungen + psychischer Belastung aufgrund der Corona-MASSNAHMEN. 2020 waren es sogar drei lange AU´s. Nicht Corona ist Sie also in meinem Falle teuer gekommen, sondern die von der Politik mit einer abwertenden Handbewegung in Kauf genommenen "Kollateralschäden"!!
Im übrigen müssen Sie mir einmal erklären, wie Sie bei einer explosionsartig alternden Bevölkerung wie in der BRD darauf kommen, das zukünftig WENIGER Krankenhausbetten benötigt werden! Ich habe beruflicherseits auch sehr guten Einblick in die Belegungsstatistiken von Kliniken. Schauen Sie sich einmal die Entwicklung des Altersdurchschnittes der Patienten in den letzten 10 Jahren genauer an, Herr Baas.
Und diese immer älteren Krankenhauspatienten verursachen natürlich auch immer höhere Kosten aufgrund deren vielfacher Multimorbidität!! Sie können bestenfalls in den nächsten Jahren Geburtshilfe- / Entbindungsstationen reduzieren, aber Sie werden zukünftig sogar weitaus MEHR geriatrische Kliniken benötigen!!
Man sollte bei den Vorstandsgehälter + Aufsichtratsbezügen anfangen zu sparen!