Kampf um die Tarifbindung Auf dem Weg zum Zwangskollektiv

Die Arbeitgeber ärgert besonders, dass sich die Arbeitsministerin ständig in die Tarifautonomie einmischt.
Berlin Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst hatte noch nicht einmal richtig begonnen, da wurden in Naunhof schon Kitas, Bauhof und Verwaltung bestreikt. Der Grund: Als eine der ganz wenigen Gemeinden in Deutschland ist das Städtchen bei Leipzig schon vor zwei Jahrzehnten aus dem kommunalen Arbeitgeberverband ausgetreten – und damit auch aus dem Flächentarif.
Mit beispielloser „Halsstarrigkeit“ enthalte die Stadt den Beschäftigten faire und transparente Arbeitsbedingungen vor, schimpft Beamtenbund-Vize Willi Russ. Bürgermeister Volker Zocher würde den Tarifvertrag gerne abschließen: „Aber der Stadtrat hat mir Verhandlungen untersagt.“ Ein Grund könnten 320.000 Euro Mehrkosten pro Jahr sein, die bei Bezahlung und Eingruppierung der Angestellten nach Tarif fällig würden.
Während Naunhof im öffentlichen Dienst eine absolute Ausnahme bildet, ist Tarifflucht in der Privatwirtschaft inzwischen eher die Regel. Unterwarf sich zur Jahrtausendwende in Westdeutschland noch fast jedes zweite Unternehmen einem Flächen- oder Firmentarifvertrag, so ist es heute nur noch jedes dritte. Im Osten ist die Tarifbindung von 27 Prozent auf etwa ein Fünftel geschrumpft. 40 Prozent der Beschäftigten im Westen und 54 Prozent im Osten arbeiten heute ohne Tarifvertrag.
Gewerkschaften, Bundesregierung und Justiz versuchen vereint, die Trendumkehr zu erreichen. Sollte es in der Metall-Tarifrunde zu Arbeitskämpfen kommen, will sich die IG Metall verstärkt Firmen ohne Tarifbindung vorknöpfen. Verdi zieht seit drei Jahren gegen Amazon ins Feld, weil der US-Versandhändler wenig von deutscher Sozialpartnerschaft hält. Und jüngst hat das Bundesverwaltungsgericht Handwerksinnungen untersagt, Mitglieder auf Wunsch aus der Tarifbindung zu entlassen, damit diese Löhne frei verhandeln können.
Die Arbeitgeber ärgert aber besonders, dass sich Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ständig in die Tarifautonomie einmischt. „Marktwirtschaftliche Werte wie unternehmerischer Freiheit, Vertragsfreiheit und Tarifautonomie werden in rasantem Tempo ausgehebelt“, kritisiert Familienunternehmer-Präsident Lutz Goebel. Das Arbeitsministerium wirke fast wie das „Politbüro des Deutschen Gewerkschaftsbundes“.
So bevorzugt eine ganze Reihe bereits in Kraft getretener oder geplanter Gesetze tarifgebundene Unternehmen. Nicht nur die Familienunternehmer, auch die Metall-Arbeitgeber halten die Eingriffe des Gesetzgebers allerdings für kontraproduktiv.
Man freue sich über jedes tarifgebundene Unternehmen, sagt Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander: Aber Unternehmen würden bestimmt nicht nur deshalb dem Flächentarif beitreten, um dann Leiharbeiter etwas länger einsetzen zu können. Viele Firmen lehnten den Flächentarif deshalb ab, weil sie sich damit auch an die 35-Stunden-Woche binden würden.
Von den rund 24.000 Betrieben der Metall- und Elektroindustrie sind heute nur 3.554 tarifgebunden, 3.349 gehören dem Arbeitgeberverband als Mitglied ohne Tarifbindung (OT) an. Sie unterwerfen sich nicht dem Flächentarif, orientieren sich aber häufig an ihm. Von den 3,8 Millionen Beschäftigten der Branche werden 1,9 Millionen nach Flächentarif bezahlt. Tarifbindung sei eben auch eine Frage der Mischkalkulation, sagt Zander. Müssten alle Unternehmen den hohen Metall-Tarif zahlen, wären viele nicht mehr wettbewerbsfähig.
Die Kosten haben im Juni 2015 auch die SB-Warenhauskette Real bewogen, zwar im Einzelhandelsverband HDE zu bleiben, aber den von ihm ausgehandelten Flächentarifvertrag nicht mehr anzuwenden. Fast die Hälfte der Unternehmen im deutschen Lebensmitteleinzelhandel zahle schon seit Jahren nicht mehr nach Tarif, begründet eine Firmensprecherin den Schritt. Selbst gegenüber der tarifgebundenen Konkurrenz gebe es aber Nachteile, weil der Flächentarif Discounter oder Supermärkte begünstige. „Unsere Personalkosten liegen dadurch bis zu 30 Prozent über denen der Wettbewerber“, betont die Sprecherin. Real hofft nun auf eine Modernisierung des Flächentarifs im Einzelhandel. Die Gespräche zwischen dem HDE und den Gewerkschaften laufen.
Während hier also eine Rückkehr in den Flächentarif nicht ausgeschlossen ist, denkt Amazon gar nicht daran, dem Druck der Gewerkschaften nachzugeben. „Wir beweisen jeden Tag, dass man auch ohne Tarifvertrag ein guter Arbeitgeber sein kann“, sagt eine Sprecherin.
Der US-Onlinehändler bezahlt seine Mitarbeiter in Anlehnung an den Logistiktarif. Mit durchschnittlich 10,40 Euro brutto pro Stunde liege man am oberen Rand dessen, was für vergleichbare Tätigkeiten üblich sei. Hinzu kämen Extras, die es in Tarifverträgen gar nicht gebe, etwa Mitarbeiteraktien.
Die Gewerkschaft Verdi sieht Amazon aber nicht als Logistiker, sondern als Händler und fordert die Anwendung des Einzelhandelstarifvertrags. Auch weil dieser eben nicht nur das Gehalt, sondern auch Arbeits- und Pausenzeiten, Aufstiegsmöglichkeiten oder Urlaubsansprüche verbindlich und einheitlich regele. Doch Amazon will hart bleiben.
Familienunternehmer-Chef Goebel hat dafür volles Verständnis und verweist auf die „negative Koalitionsfreiheit.“ Unternehmen können sich in Arbeitgeberverbänden organisieren und mit den Gewerkschaften Tarifverträge aushandeln – aber sie können es eben auch bleiben lassen. Auch Zander warnt die Regierung, weiter Druck zu machen: „Mit Zwangskollektivismus wird die vom Grundgesetz geschützte Tarifautonomie nicht überleben.“