Klimaneutralität Warum Klimaschutzverträge die letzte Chance für die Stahlindustrie sein könnten

Konventionelle Produktionsmethoden, bei denen CO2 frei wird, haben keine Zukunft.
Berlin Energieintensive Branchen wie Stahl, Chemie oder Zement stehen in den kommenden Jahren unter immensem Druck, ihre Produktionsverfahren klimaneutral zu gestalten. Die Stahlindustrie steht dabei besonders im Fokus. Sie stellt in Deutschland die größte industrielle CO2-Quelle dar. Wenn man hier ansetzt, tun sich gewaltige CO2-Minderungspotenziale auf, die sich auf wenige Standorte beschränken.
Als effizientes Instrument zur Senkung der CO2-Emissionen bieten sich Klimaschutzverträge an, die den Unternehmen die Mehrkosten einer klimafreundlichen Stahlproduktion ersetzen. Diese Mehrkosten sind erheblich: „Der Finanzbedarf für die Klimaschutzverträge zur Transformation der Stahlindustrie bis 2030 beträgt je nach Kombination der Politikinstrumente insgesamt 13 bis 35 Milliarden Euro“, heißt es in einer noch unveröffentlichten Analyse des Thinktanks Agora Energiewende, die dem Handelsblatt vorliegt.
Erforderlich sei ein eigener dauerhafter Refinanzierungsmechanismus, „damit die Branche Investitionssicherheit erhält“, heißt es in der Studie. Außerdem müssten parallel zu den Klimaschutzverträgen grüne Leitmärkte aufgebaut werden, „die den Mehrwert von klimaneutralem Stahl honorieren und ihn als Standard am Markt etablieren“.
Grundsätzlich funktionieren Klimaschutzverträge, im Fachjargon Carbon Contracts for Difference (CCfD) genannt, so: Die Verträge gleichen die Mehrkosten des Umstiegs auf klimaneutrale Prozesse aus. Sie können für die Investition in eine neue Anlage genutzt werden, aber auch für den Ausgleich höherer Betriebskosten. Ein CCfD wird zwischen öffentlicher Hand und Unternehmen geschlossen. Nach Überzeugung von Agora Energiewende sind Klimaschutzverträge „das geeignete Instrument, um die Mehrkosten einer klimafreundlichen Stahlproduktion abzusichern“.
Die Transformation der Industrie zur Klimaneutralität stellt für die betroffenen Unternehmen eine der größten Herausforderungen ihrer Geschichte dar. Sie müssen die auf dem Einsatz fossiler Energieträger basierenden Verfahren komplett umstellen auf neue Produktionsmethoden, die auf dem Einsatz von klimaneutralem Wasserstoff oder von Strom aus erneuerbaren Quellen beruhen. Das erfordert Milliardeninvestitionen in neue Anlagen und sorgt außerdem für steigende Betriebskosten. Sowohl für die Investitionen als auch für die laufenden Kosten brauchen die Unternehmen Unterstützung.
Stahlbranche: Es drohen Fehlinvestitionen
Die nächste Bundesregierung wird sich mit dem Thema beschäftigen müssen. Die Zeit drängt. Denn bis 2030 muss die Grundstoffindustrie einen erheblichen Teil ihres Anlagenparks erneuert haben, weil bestehende Anlagen am Ende ihrer Lebensdauer angelangt sind: So stehen in der Stahlbranche 53 Prozent der Hochöfen, in der Grundstoffchemie rund 59 Prozent der Steamcracker und in der Zementindustrie rund 30 Prozent der Zementöfen zur Reinvestition an.
Das Problem: Falls im kommenden Investitionszyklus erneut in konventionelle Technologien investiert werden sollte, drohen Fehlinvestitionen. Darum brauchen die Unternehmen Hilfe – und zwar sofort.
„Eine zügige und pragmatische Umsetzung von Klimaschutzverträgen“ sei daher „ein wichtiger und notwendiger Schritt, um die Transformation der Stahlbranche anzugehen“, heißt es in der Analyse von Agora Energiewende. Es gelte, „möglichst schnell die Rahmenbedingungen für geeignete Investitionsentscheidungen zu schaffen, da die nachgeschalteten Genehmigungsverfahren und der Anlagenbau etwa drei Jahre Zeit benötigen“.
Die Entscheidungen für eine Förderung der Investitionen und Zusagen zur Absicherung der Mehrkosten beim Betrieb müssten daher „schon zu Beginn der nächsten Legislaturperiode erfolgen“, heißt es in der Studie.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat in seinem „Handlungskonzept Stahl“, das im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, das Instrument der Klimaschutzverträge bereits genannt; es folgten aber bislang keine konkreten Beschlüsse. Die Förderung der Produktion von klimaneutralem Stahl bezieht sich bislang auf Pilotanlagen, ein umfassendes Konzept, das den grundlegenden Umbau der Produktion fördert, fehlt.
Die nächste Bundesregierung steht somit unter Zugzwang. In den Wahlprogrammen der Parteien ist das Thema durchaus angekommen. Die Union etwa setzt sich in ihrem Programm mit dem Thema Differenzverträge auseinander. Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock hatte in dem von ihr vorgeschlagenen „Industriepakt“ Lösungen nach dem Vorbild der Differenzverträge in Aussicht gestellt – allerdings verbunden mit der Forderung, dass die Unternehmen die Hilfen der öffentlichen Hand später wieder zurückzahlen.
Ankündigungen für mehr Klimaschutz reichen nicht
Die Branche wartet auf konkrete Angebote. Klimaschutzverträge seien ein Schlüsselinstrument, damit der Einstieg in die Transformation möglich werde, sagte Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, dem Handelsblatt. „Solche Klimaschutzverträge müssen bereits ab 2022, mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet, zur Verfügung stehen und über ein von der Bundesregierung angekündigtes Pilotprogramm hinausgehen“, sagte Kerkhoff.
Fachpolitiker wissen, dass die Zeit drängt. „Die Industrie wartet schon zu lange auf ein tragfähiges Förderprogramm, Ankündigungen allein sind keine ausreichende Sicherheit“, sagte Dieter Janecek, Sprecher für Industriepolitik der Grünen-Bundestagsfraktion, dem Handelsblatt.
„Jetzt heißt es: Raus aus dem Schlafwagen der Großen Koalition, wir brauchen endlich ordentlich Dampf im Kessel. Das heißt: in puncto Klimaschutzverträge Klarheit und Konzept, einen Zeitplan und die nötige Umsetzungskraft. Das Wahlergebnis birgt dafür eine große Chance“, sagte er.
Allerdings ist das Thema für den Fall einer Regierungsbeteiligung der Liberalen nicht frei von Konfliktpotenzial. Bei Klimaschutzverträgen sei „die FDP nach den Erfahrungen mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zwar eher skeptisch“, sagte Lukas Köhler, klimaschutzpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, dem Handelsblatt. „Aber unter Demokraten gehört es zum guten Ton, sich konkrete Vorschläge gegebenenfalls erst mal anzuhören“, sagte er. Er sei sich sicher, dass man im Falle einer Regierungsbeteiligung gute Konzepte entwickeln könne, damit Deutschland zum klimaneutralen Industrieland werden könne.
„Europäische Stahlindustrie muss schnelle Transformation beginnen“
Die Stahlhersteller in Deutschland haben umfassende Investitionen angekündigt. Die Analyse von Agora Energiewende verdeutlicht jedoch, dass die Ankündigungen nicht ausreichen, um die klassische Hochofenroute, die auf dem Einsatz von Kohle basiert, komplett zu ersetzen.
Nach Angaben von Agora Energiewende erreichen 16 Millionen Tonnen kohlebasierter Hochofenkapazität bis 2030 das Ende ihrer Lebensdauer. Dem stehen aber nur Investitionsankündigungen in Höhe von sieben Millionen Tonnen Kapazität für neue, klimafreundliche Verfahren gegenüber.
Die neuen Verfahren basieren auf dem Einsatz von Wasserstoff. Dabei wird das Eisenerz in Direktreduktionsanlagen reduziert. Dabei entsteht lediglich Wasserdampf als Prozessgas, kein CO2. Das Endprodukt der sogenannten Wasserstoffroute – im Gegensatz zur kohlebasierten Hochofenroute – ist direkt reduziertes Eisen (DRI), das in einem Elektrolichtbogenofen zu Stahl geschmolzen wird.
Eile ist geboten, damit sich der Wandel in Europa vollzieht: „Die Gefahr, dass die Direktreduktion von Eisen nicht in Deutschland oder anderswo in Europa stattfindet, ist gegeben. Die europäische Stahlindustrie muss jetzt eine schnelle Transformation beginnen, damit dieser Teil der Wertschöpfungskette gehalten werden kann“, sagte Frank Peter von Agora Energiewende. Die Politik werde diesen Prozess „massiv unterstützen müssen“.
Auch blauer Wasserstoff soll zum Einsatz kommen
Der klimaneutrale Wasserstoff, auf den die Stahlunternehmen für die Wasserstoffroute angewiesen sind, wird noch für Jahre knapp und teuer sein. Ersatzweise werden die Unternehmen daher anfangs Erdgas statt Wasserstoff einsetzen müssen. „Über den Betrieb mit Erdgas wird ein Großteil der CO2-Emissionen schnell zu moderaten Kosten reduziert, bis Erdgas durch ein steigendes Angebot an erneuerbarem Wasserstoff ersetzt wird“, heißt es in der Analyse von Agora Energiewende.
Auch beim Einsatz des Wasserstoffs selbst raten die Fachleute von Agora zur Flexibilität: Solange nicht genügend Wasserstoff zur Verfügung stehe, der mittels Strom aus erneuerbaren Quellen durch Elektrolyse hergestellt wird („grüner Wasserstoff“), könne der Prozess „durch die Verwendung von CCS-basiertem Wasserstoff beschleunigt werden“.
CCS-basierter Wasserstoff, auch „blauer Wasserstoff“ genannt, entsteht, wenn Wasserstoff auf konventionellem Weg mittels Dampfreformierung auf Erdgasbasis hergestellt wird und das dabei frei werdende CO2 dauerhaft unterirdisch gespeichert wird (Carbon Capture and Storage, kurz CCS). Die Methode ist umstritten.
Die Analyse basiert zu wesentlichen Teilen auf Erkenntnissen, die Agora Energiewende in Workshops mit Wirtschaft, Wissenschaft, Ministerien und nachgeordneten Behörden gewonnen hat. An der Analyse mitgearbeitet haben das Wuppertal Institut, Futurecamp Climate und das Ecologic Institute.
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Im Artikel stehen die Kosten im Vordergrund. Vor der Kostenfrage muss aber die Frage stehen, was unter dem Strich fürs CO2 herauskommt. Zieht man etwa Strom für die Wasserstoff-Elektrolyse ab, muss man dieser Erzeugung das CO2 zurechnen, das erzeugt wird um im Netz diese Leistung aufzufüllen. So lange wie wir Fossilstrom (auch importierten) als Ergänzung im Netz brauchen, so lange hilft auch Wasserstoff dann nicht.