Klimaschutzgesetz CO2-Preis von 100 Euro rückt in greifbare Nähe

Die Bundesumweltministerin pocht bei der Reform des Klimaschutzgesetzes auf die Unterstützung der Union.
Berlin Wer wissen will, wohin die Reise in Sachen Klimaschutz geht, ist gut beraten, Patrick Graichen zuzuhören. Der Direktor des Thinktanks Agora Energiewende gehört zu den Experten, deren Rat bei den Grünen, bei der SPD und auch in Teilen der Union gleichermaßen geschätzt wird. Graichen ist überdies nur Thinktank-Chef auf Zeit: Der Beamte ist von seinem Dienst im Bundesumweltministerium lediglich beurlaubt.
Am Montagmorgen stellte der Ökonom sechs Eckpunkte vor. Darin skizziert er, wie man das Klimaschutzgesetz so ändern könnte, dass es den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird.
Die Verfassungsrichter hatten der Bundesregierung vergangene Woche ins Stammbuch geschrieben, ihr 2019 beschlossenes Klimaschutzgesetz reiche nicht aus, da es für die Jahre zwischen 2030 und 2050 keinen hinreichend konkreten Weg zur Klimaneutralität weise. Der Auftrag der Verfassungsrichter: Bis Ende 2022 muss das Klimaschutzgesetz novelliert werden.
Nach Überzeugung Graichens ist es erforderlich, die Instrumente des Klimaschutzgesetzes deutlich zu schärfen. So soll ein Automatismus eingeführt werden, der dafür sorgt, dass der CO2-Preis in den Sektoren Verkehr und Gebäude zum jeweils nächsten Jahreswechsel um 15 Euro steigt, wenn in diesen beiden Sektoren die im Klimaschutzgesetz festgeschriebene Jahresemissionsmenge überschritten wird. Derzeit beträgt der CO2-Preis in den beiden Sektoren 25 Euro je Tonne. Der Preis ist im Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) geregelt. Er steigt laut BEHG bis 2025 schrittweise auf 55 Euro.
Bislang erlaubt das BEHG, die Zielverfehlung in den Folgejahren auszugleichen. „Das ist de facto eine Verschiebung der Klimaschutzanstrengungen auf spätere Generationen“, heißt es in den Eckpunkten von Agora Energiewende. Genau das hatten die Verfassungsrichter kritisiert.
Ein rascherer Ausstieg aus der Kohleverstromung
Die automatische CO2-Preis-Erhöhung bei Zielverfehlung ermögliche eine „umgehende Nachsteuerung“. Eine Hintertür bleibt: „Bundesregierung und Bundestag können diese Erhöhung abwenden, wenn sie vergleichbar effektive Maßnahmen beschließen“, heißt es in den Eckpunkten von Agora weiter.
Umweltministerin Schulze: „Dynamik des Green Deals erfasst jetzt nach und nach die ganze Welt“
Graichen hält die im BEHG vorgesehenen Anstiege des CO2-Preises ohnehin für zu niedrig. Er empfiehlt, den CO2-Preis in den kommenden vier Jahren schrittweise auf 100 Euro zu erhöhen. Mit den Einnahmen lasse sich die Streichung der Umlage nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) komplett finanzieren. Bereits ab Januar 2022 soll der CO2-Preis 45 Euro betragen.
Im Europäischen Emissionshandelssystem, an dem die Sektoren Energie und Industrie teilnehmen, müsse der Zertifikatepreis bis 2030 „auf 60 oder 70 Euro“ steigen, empfiehlt Graichen.
Dadurch lasse sich auch ein rascherer Ausstieg aus der Kohleverstromung erreichen. Agora Energiewende fordert ein Ende für die Kohle bereits 2030. Nach geltender Rechtslage geht das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland spätestens 2038 vom Netz.
Agora Energiewende spricht sich dafür aus, im Klimaschutzgesetz das Ziel der Klimaneutralität bereits für 2045 festzuschreiben. Aufgrund des sehr knappen verbleibenden CO2-Budgets sei „ein schnellerer Pfad in Richtung Klimaneutralität bis 2045 statt 2050 nötig“, heißt es in den Eckpunkten.
Nach 2045 seien dann netto negative Emissionen unumgänglich. Das heißt, es müsste der Atmosphäre aktiv CO2 entzogen werden, etwa durch Aufforstungen, aber auch durch die Abscheidung und unterirdische Speicherung von CO2 (Carbon Capture and Storage, kurz CCS).
Gesetzesentwurf bis Ende der Woche
Agora Energiewende fordert zusätzlich, die laufende EEG-Novelle zu nutzen, um ehrgeizige Ausbauziele für Windräder und Photovoltaikanlagen festzuschreiben. „Wir brauchen jede Menge erneuerbare Energien, auch Windräder in Bayern“, sagte Graichen in Anspielung auf den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU). Söder hat in den vergangenen Tagen ehrgeizige Ziele im Klimaschutz formuliert; allerdings wird Bayern seit Jahren wegen besonders restriktiver Vorgaben für den Ausbau der Windkraft kritisiert.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) kündigte mittlerweile an, bis Ende der Woche den Entwurf für ein überarbeitetes Klimaschutzgesetz vorzulegen. Darin soll auch ein neues Einsparziel für die Reduzierung klimaschädlicher Treibhausgase bis 2030 enthalten sein. Bislang hatte Deutschland vorgesehen, die CO2-Emissionen um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken.
Unabhängig vom Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vergangene Woche hatte sich eine Verschärfung bereits abgezeichnet. Grund ist das neue EU-Klimaziel, das vorsieht, die Emissionen bis 2030 EU-weit um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. Dieses hatte bislang bei 40 Prozent gelegen.
Schulze fordert Unterstützung der Union ein
Was das im Einzelnen für Deutschland bedeutet, ist bislang unsicher. Umweltministerin Schulze sprach im „Spiegel“ davon, sich von ihren Sachverständigen leiten zu lassen. „Die Experten schätzen, dass das Ziel zwischen 62 und 68 Prozent liegen sollte“, sagte sie. Agora Energiewende empfiehlt, das deutsche Klimaziel für 2030 von 55 auf 65 Prozent zu erhöhen.
Schulze forderte die Union dazu auf, sie bei der Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zu unterstützen. Sie werde einen Vorschlag machen, „und dann wird man sehen: Wer sind die Bremser, und wer geht da mit voran?“, sagte sie am Montag im Deutschlandfunk.
Die Union lehnte bislang eine „bloße Fortschreibung der bisherigen Instrumente der europäischen Klimapolitik samt der derzeit geltenden Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten“ ab. Das würde Deutschland, das bisher überproportional zum EU-Klimaziel beitrage, überfordern. Allerdings hatten nach dem Karlsruher Richterspruch viele Unionspolitiker, darunter auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), ein Bekenntnis zum Klimaschutz abgelegt.
Naturschutzbund: Deutschland lebt ab Mittwoch „auf Pump“
Doch auch über 2030 hinaus muss Klimaschutz verbindlicher werden. Das Verfassungsgericht gebe dem Gesetzgeber einen klaren Auftrag, auch über das Jahr 2030 hinaus „klare gesetzliche Vorgaben für den Weg zur Klimaneutralität zu schaffen“, so Schulzes Argumentation.
Die Ministerin sieht sich durch das Karlsruher Urteil deutlich bestärkt. Bei den Verhandlungen zum Klimaschutzgesetz 2030 war sie in der Koalition noch daran gescheitert, weitere Zwischenziele bei den Emissionsreduktionen für die 2030er Jahre festzulegen.
Es ist damit zu rechnen, dass bis Donnerstag zumindest Eckpunkte für das überarbeitete Klimaschutzgesetz vorliegen könnten. An diesem Tag sprechen UN-Generalsekretär António Guterres, der britische Premierminister Boris Johnson und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beim virtuell ausgetragenen Petersberger Klimadialog. Die Konferenz wird seit 2010 jährlich im Frühjahr in Deutschland zur Vorbereitung der nächsten Weltklimakonferenz ausgerichtet.
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) mahnte, dass Deutschland schon ab Mittwoch „auf Pump“ leben würde: Deutschland habe bereits am 5. Mai so viele Ressourcen verbraucht, „wie unserem Land rechnerisch für das ganze Jahr zur Verfügung stehen“, sagte BUND-Chef Olaf Bandt. Dieser frühe deutsche Erdüberlastungstag sei ein Alarmsignal und Armutszeugnis für die Umwelt- und Naturschutzpolitik der vergangenen Jahre.
Weltweit liegt der Erdüberlastungstag im Hochsommer. „Die Zeiten eines Wirtschaftswachstums um jeden Preis sind vorbei“, mahnte Bandt. „Unser auf Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem führt neben den katastrophalen ökologischen Auswirkungen global und hier in Deutschland zugleich zu immer gravierenderen sozialen Brüchen.“
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