Kombinieren von Leistungen Pflegedienste kassieren mit einem Trick deutlich mehr Geld aus den Sozialkassen

Die Kosten der Pflege steigen weiter extrem an.
Berlin Bundesgesundheitsminister Jens Spahn macht sich keine Illusionen darüber, dass in der Pflege ein gewaltiger finanzieller Kraftakt bevorsteht. „Es stimmt: Die Pflege wird noch viel teurer werden“, sagte der CDU-Politiker Anfang des Jahres.
Die Mehreinnahmen durch die jüngste Anhebung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung reichen bis maximal 2022, womöglich muss wegen der angestrebten höheren Löhne für Pflegekräfte schon vorher erneut an der Beitragsschraube gedreht werden. Zugleich werden Bewohner von Pflegeheimen durch immer höhere Eigenanteile belastet.
Das Gesundheitsministerium hält sich mit Vorschlägen zur Reform der Pflegefinanzierung bislang zurück. Hinter den Kulissen werden aber verschiedene Modelle geprüft. Außerdem hat Spahns Haus ein Auge auf überteuerte Strukturen in der Pflegeversorgung geworfen: Hier ließen sich Milliardensummen einsparen.
Im Fokus stehen vor allem Angebote, bei denen betreute Wohneinrichtungen mit der ambulanten Tagespflege verbunden werden. Durch das geschickte Kombinieren von Leistungen können findige Pflegedienste teilweise das mehr als das Doppelte pro Patient aus den Sozialkassen kassieren als in klassischen Pflegeheimen.
Eine interne Studie im Auftrag des Gesundheitsministeriums, deren Ergebnisse dem Handelsblatt vorliegen, beziffert die Mehrausgaben für die Kranken- und Pflegeversicherung durch die verstärkte Nutzung dieser quasi-stationären Wohnformen alleine für das Jahr 2017 auf 225 bis 700 Millionen Euro.
Das Problem wird auch im Bundestag gesehen. „Wir müssen die ambulante und die stationäre Pflege besser aufeinander abstimmen“, sagte der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Erwin Rüddel (CDU), dem Handelsblatt. „Derzeit entstehen viele Einrichtungen, in denen betreutes Wohnen mit Tagespflege kombiniert wird.“
Grundsatz: „ambulant vor stationär“
Im Gesundheitsausschuss kursiert ein Rechenbeispiel: In den quasi-stationären Einrichtungen können 3096 Euro für einen Bewohner der mittelschweren Pflegestufe 3 aus der Kranken- und der Pflegeversicherung abgerufen werden.
In den klassischen Heimen zahlt für den gleichen Fall nur die Pflegeversicherung, und zwar den deutlich niedrigeren Betrag von 1262 Euro. Gerade angesichts steigender Eigenanteile in Pflegeheimen führen diese Unterschiede zu einer wachsenden Nachfrage nach den neuen Wohnprojekten.
In der Pflege in Deutschland gilt der Grundsatz „ambulant vor stationär“. Pflegebedürftige sollen die Möglichkeit haben, die jeweils benötigten Leistungen möglichst passgenau abzurufen und so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben zu können. Die betreuten Wohngruppen mit angeschlossener Tagespflege unterscheiden sich allerdings kaum von klassischen Heimen.
Der Pflegemarkt hat sich längst auf dieses lukrative Schlupfloch eingestellt. Einer Studie des Kuratoriums Deutsche Altershilfe zufolge findet ein Großteil des betreutes Seniorenwohnens in Kombination mit Pflegeangeboten statt.
In einer Umfrage unter Anbietern betrachtete fast die Hälfte ihre Wohnanlage bereits als Alternative zum Pflegeheim. Die Ergebnisse der Studie zeigen auch, dass die Bewohnerschaft in diesen betreuten Wohnanlagen älter und pflegebedürftiger geworden ist und immer seltener auf die Unterstützung von Angehörigen zurückgreifen kann.
Sowohl private als auch gemeinnützige Anbieter planen bei Neubauten kaum noch Heime, sondern setzen auf die alternativen Wohnkonzepte. Der Marktanalyse eines Branchendienstes zufolge waren von den im Zeitraum von Oktober 2017 bis März 2018 neu eröffneten 88 Pflegeheimen in Deutschland nur 26 Prozent als klassisch stationär einzuordnen.
Das im Auftrag des Gesundheitsministeriums erstellte Gutachten des Pflegeexperten Heinz Rothgang von der Universität Bremen ergab, dass ambulante Pflegedienste zunehmend eine Ausweitung ihres Angebots in betreute Wohngruppen planten. Die Mehrkosten für die Sozialkassen wären nur bei einer erheblichen Steigerung der Lebensqualität im Vergleich zu den stationären Einrichtungen gerechtfertigt, heißt es dort.
Die Qualitätsstandards für die heimähnlichen Häuser sind aber eher geringer als in der stationären Pflege. Vorgaben zum Anteil der Pflegefachkräfte am Personal existieren nicht, auch der Brandschutz und hygienische Anforderungen sind weniger stark reglementiert.
Neben den quasi-stationären Angeboten sehen Gesundheitspolitiker auch Handlungsbedarf in der Intensivpflege, wo Schwerkranke rund um die Uhr von Pflegekräften betreut werden müssen. Im häuslichen Umfeld ist dies für die Krankenkassen mit deutlich höheren Kosten verbunden als die Versorgung in spezialisierten Heimen oder Kliniken.
Die häusliche Intensivpflege soll zur Ausnahme werden
Bei der ambulanten Intensivpflege in den eigenen vier Wänden können außerdem zusätzlich Gelder aus der Pflegeversicherung abgerufen werden. Im stationären Bereich fallen für die Betroffenen und ihre Angehörigen dagegen üppige Zuzahlungen an.
„Es gibt gut begründete Fälle, in denen sich Familien bewusst für häusliche Pflege ihrer Angehörigen entscheiden“, sagte CDU-Politiker Rüddel. „Wir haben aber auch Fehlanreize im System, wo sich Menschen für die für die Sozialkassen wesentlich teurere Variante entscheiden, weil sie dadurch ihren eigenen Geldbeutel schonen können.“
Diesen Punkt will Spahn in einem Gesetz angehen, das er in der vergangenen Woche vorgestellt hat: Die häusliche Intensivpflege soll zur Ausnahme werden. Der Minister reagiert damit auf die in den vergangenen Jahren stark gestiegene Zahl von Beatmungspatienten, die ambulant versorgt werden.
Spahn betont, dass es ihm vor allem um eine bessere Versorgung gehe. So würden die Betroffenen zu häufig nach Hause entlassen, ohne ihnen wieder das selbständige Atmen beizubringen. Dazu kommen Betrugsfälle: Erst im Mai deckten die Behörden auf, dass Personal ohne ausreichende Qualifikation in der häuslichen Intensivpflege eingesetzt wurde.
„Es ist das erste Mal, dass vom Grundsatz ambulant vor stationär abgewichen wird. Das macht Hoffnung“, sagte CDU-Politiker Rüddel zu Spahns Gesetz. „Die Kombination von verschiedenen Finanzierungsquellen in der Pflege muss an strengere Bedingungen geknüpft werden.“
Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses schätzt das Einsparpotenzial für die Kranken- und Pflegeversicherung auf „zwei bis drei Milliarden Euro im Jahr, bei gleichzeitig besserer Versorgung der Betroffenen“.
Die eingesparten Mittel könnten nach Ansicht von Rüddel wiederum eingesetzt werden, um die Bewohner von Pflegeheimen bei den steigenden Eigenanteilen zu entlasten. „Das können wir dann aus dem System heraus finanzieren, ohne Beitragserhöhungen“, sagte er.
Mehr: Patientenschützer verlangen Maßnahmen der Bundesregierung. Sie kritisieren große Unterschiede zwischen den Bundesländern bei steigenden Pflege-Zuzahlungen.
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