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Lernen aus der Coronakrise Deutschland gilt als Vorbild im Kampf gegen die Pandemie – aber nicht unbedingt wegen der Krisenpolitik

Das Gesundheitssystem hat dem Coronavirus bisher standgehalten. Ist das der Erfolg der Regierung – oder hat Deutschland einfach Glück gehabt?
29.07.2020 - 14:53 Uhr 3 Kommentare
Das deutsche Gesundheitssystem war schon vor Corona im internationalen Vergleich gut aufgestellt. Quelle: dpa
Gesundheitssystem

Das deutsche Gesundheitssystem war schon vor Corona im internationalen Vergleich gut aufgestellt.

(Foto: dpa)

Berlin Ein halbes Jahr ist es her, dass der Autozulieferer Webasto im bayerischen Stockdorf Besuch von einer Kollegin aus China bekam. Die Frau war mit dem neuartigen Erreger Sars-CoV-2 infiziert, am Ende steckten sich 14 Mitarbeiter von Webasto an – die ersten bestätigten Corona-Fälle in Deutschland.

Die Krankheit verlief bei den Betroffenen milde, der Ausbruch war schnell unter Kontrolle, und das Virus schien damals für die meisten Deutschen noch weit weg. Ende Februar nahm das Infektionsgeschehen an mehreren Orten in Deutschland zu, einen Monat später schränkten Bund und Länder das öffentliche Leben über Wochen in für die Republik beispielloser Weise ein.

Heute gehört der Mund-Nase-Schutz zum Straßenbild, noch immer gelten Abstandsregeln, Großveranstaltungen sind weiter verboten, es gibt Sorgen über eine zweite Welle im Herbst. „Die Pandemie ist eingedämmt, sie ist nicht weg“, mahnt Kanzlerin Angela Merkel (CDU).

Im Umgang mit dieser Pandemie erntet die Bundesrepublik international Bewunderung. Die Wissenschaftler der US-Universität Johns Hopkins führen eine Statistik, die viel darüber aussagt, wie stark ein Land vom Coronavirus betroffen ist: Es geht um die Zahl der Verstorbenen mit Sars-CoV-2 im Verhältnis zur Bevölkerung.

Fast 70 Menschen pro 100.000 Einwohner sind in Großbritannien im Zusammenhang mit dem Virus gestorben, in Italien liegt der Wert bei 58, in Frankreich bei 45, in den USA noch bei 43. In Deutschland kommen den Angaben zufolge nur elf Todesfälle auf 100.000 Einwohner.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte, der Pandemieverlauf hierzulande mache „demütig, aber nicht übermütig“. Ausländische Ministerkollegen wollten von ihm wissen, wie Deutschland eine Überlastung seines Gesundheitssystems verhindert habe. Spahn gab US-Fernsehsendern Interviews, schrieb für die französische Zeitung „Le Monde“ einen Gastbeitrag mit dem Titel: „Warum Deutschland diese Krise relativ gut überwindet“.

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Auch die meisten Deutschen sind zufrieden mit dem Krisenmanagement ihrer Regierung. Im Juni befragte das Meinungsforschungsinstitut Forsa für eine Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums rund 30.000 Bürger zu ihren Einstellungen und Erfahrungen in der Coronakrise.

Etwa zwei Drittel halten die im März von der Politik beschlossenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie für richtig, jeweils ein knappes Fünftel für zu streng beziehungsweise nicht streng genug.

Der Weg aus den harten Alltagseinschränkungen stößt ebenfalls auf Zustimmung. Knapp die Hälfte der Bürger glaubt, dass die Politik bei den Lockerungen das richtige Maß gefunden hat. Ein Drittel ist demnach der Auffassung, das Ende von Maßnahmen sei zu früh gekommen. Nur 15 Prozent halten die Öffnung für zu zögerlich und nicht weitreichend genug.

Deutschland, der Musterschüler im Kampf gegen die Pandemie. Allerdings: Lief bei der gesundheitspolitischen Antwort auf das Coronavirus wirklich alles so gut, wie es die Stimmung in der Bevölkerung und der anerkennende Blick aus dem Ausland nahelegen? Welchen Unterschied machte das Regierungshandeln – und welche Rolle spielte die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems?

Was lief gut?

Die Strenge der Maßnahmen allein ist kein Indikator, wie schlagkräftig ein Land mit der Pandemie umgeht. Italien oder Frankreich wurden vom Coronavirus stärker getroffen, obwohl sie härtere Einschränkungen als die Bundesrepublik erließen. Die Daten des Robert Koch-Instituts legen zumindest nahe, dass sich das Infektionsgeschehen in Deutschland bereits vor den weitreichenden Bund-Länder-Beschlüssen zu Kontaktsperren abschwächte.

Eine Expertengruppe mit früheren Mitgliedern des Sachverständigenrats Gesundheit der Bundesregierung, darunter der Kölner Medizinprofessor Matthias Schrappe und der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske von der Universität Bremen, folgert daraus: „Es gibt deutliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass die einfachen Maßnahmen wie Verbot von Großveranstaltungen bereits ausgereicht hätten.“

Dagegen kamen Forscher der Max-Planck-Gesellschaft auf Grundlage von Modellrechnungen zu dem Schluss, dass die Trendwende erst mit den strengen Regeln vom 22. März erreicht worden sei.

Das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherung (WIP) hat die Lage von 15 EU-Mitgliedstaaten im Kampf gegen das Coronavirus verglichen. „Wie stark die einzelnen Länder von der Covid-19-Pandemie betroffen waren, ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig, die nicht immer durch Regierungen beziehungsweise Gesundheitssysteme steuerbar waren“, heißt es in der Analyse.

Ein Schlüssel ist, die Infektionsketten über Tests und das Nachverfolgen von Kontakten zu durchbrechen. „Deutschland hatte durch die frühe Entwicklung der diagnostischen Tests auf Covid-19 einen zeitlichen Vorsprung bei der Pandemiebewältigung“, schreiben die Experten des WIP. „Ab Mitte Februar konnte routinemäßig auf die Infektion getestet werden, was international die Ausnahme darstellte.“

Spahn baute die Testkapazitäten beständig aus, mittlerweile liegen sie nach Angaben des Gesundheitsministeriums bei über einer Million pro Woche. Dass gegenwärtig nur 300.000 bis 400.000 Tests in der Woche abgerufen werden, liegt am ruhigen Infektionsgeschehen.

Zur Strategie gehört mittlerweile auch, dass regelmäßig in Krankenhäusern oder Pflegeheimen durchgetestet wird. Wenn in Restaurants oder Kitas Fälle auftreten, sollen möglichst viele Menschen aus dem Umfeld untersucht werden – auch wenn sie keine Symptome zeigen.

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Bund und Länder kündigten auch die Stärkung der rund 400 Gesundheitsämter in Deutschland an, um Kontakte von Infizierten schneller aufzuspüren. Ein weiteres Instrument ist die Corona-Warn-App, die mit mehr als 16 Millionen Downloads deutlich besser angenommen wurde als die Versionen in anderen Ländern.

Allerdings wurden Nutzer wegen technischer Probleme nach Risikobegegnungen nicht immer automatisch gewarnt. Mittlerweile gelten die technischen Probleme aber als behoben.

Das deutsche Gesundheitssystem war schon vor Corona im internationalen Vergleich gut aufgestellt – und hatte mit der Aufteilung in den ambulanten und stationären Sektor in der Pandemie einen großen Vorteil. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) wurden sechs von sieben Corona-Patienten ambulant versorgt.

Die Praxen der niedergelassenen Ärzte seien „die erste Anlaufstelle“ gewesen, sagte KBV-Chef Andreas Gassen. Das sei komplett anders als in fast allen anderen Ländern dieser Welt und habe mit dazu beigetragen, dass es keine Überforderung des Systems gegeben habe.

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Auch die WIP-Studie hebt hervor, dass „eine Einschleppung des Virus über Notaufnahmen, wie in anderen Ländern, vermieden werden konnte“. Die Kliniken hätten sich dann auch auf die schweren Fälle von Covid-19 konzentrieren können.

In kaum einem Land der Welt gibt es bezogen auf die Bevölkerung so viele Intensivbetten wie in Deutschland. In Rekordzeit wurde ein Onlineregister aufgebaut, an das Krankenhäuser freie Intensivbetten melden. Im März und April stockte Deutschland die Kapazitäten noch einmal auf. Kliniken mussten planbare Eingriffe wie Hüftoperationen verschieben, um Betten für Covid-19-Patienten vorzuhalten.

Was lief schlecht?

Spahns Programm für mehr Intensivkapazitäten ist aber auch ein Beispiel dafür, wie die Politik in der Anfangsphase der Pandemie übersteuerte. Der Bund wandte Milliardensummen auf, um Krankenhäuser für leer stehende Betten zu entschädigen.

Die Gelder wurden pauschal gezahlt, auf den tatsächlichen Bedarf in den jeweiligen Häusern wurde nicht geschaut. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) kritisiert, dass „ökonomische Anreize“ entstanden seien, Betten leer stehen zu lassen.

Auch die im Eilverfahren beschlossene Änderung des Infektionsschutzgesetzes war ein Schnellschuss, der viele verfassungsrechtliche Fragen aufwirft. Der Bundestag ermächtigte Spahn damals zur Pandemiebekämpfung per Verordnung – sogar Grundrechtseingriffe sind möglich. Der Gesundheitsminister ging mit seinen Befugnissen bislang behutsam um, die Einschränkung von Parlamentsrechten besteht aber fort.

Ende März war die Debatte stark von Ungewissheit über die Gefahr durch das Virus und Bildern aus überlasteten italienischen Krankenhäusern geprägt. Verlässliche Zahlen zum Infektionsgeschehen in Deutschland wären in dieser Zeit hilfreich gewesen.

Doch die Meldewege von den Gesundheitsämtern in den Kommunen bis zum RKI waren lang, ein flächendeckendes digitales System fehlte. Das Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (Demis) befindet sich seit 2016 im Aufbau.

Die Kennziffern, mit denen die Bundesregierung bei der Pandemiebekämpfung operierte, wechselten. Mal ging es um die Zahl der Tage, in denen sich die vom RKI registrierten Neuinfektionen verdoppeln. Dann um die sogenannte Reproduktionszahl R, die angibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt.

„Verständlicherweise gibt es sowohl in der Öffentlichkeit als auch auf der politischen Ebene eine große Nachfrage nach Instrumenten, die die Dynamik der Entwicklung der Epidemie beschreiben“, so die Expertengruppe um die Professoren Schrappe und Glaeske. Allerdings sei die Debatte von bisweilen „dramatisierenden“ Zahlen getrieben worden, die nur begrenzt Aussagen über das tatsächliche Infektionsgeschehen zulassen.

Zu Beginn der Pandemie mangelte es nicht nur an verlässlichen Daten, sondern auch an Schutzkleidung. Das Problem hatten viele Länder – und Spahn sagt, er habe sich nie „aktiv gegen“ den Kauf von Masken und anderer Schutzausrüstung entschieden. Doch die Engpässe machten Praxen, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu schaffen.

Eine Analyse von Versichertendaten der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) zeigt, dass Beschäftigte im Gesundheitswesen zwischen März und Mai 2020 so häufig wie keine andere Berufsgruppe wegen einer Covid-19-Diagnose krankgeschrieben waren.

„Die hohen Infektionsraten und Krankschreibungen zeigen, dass weder Kliniken noch Einrichtungen der Alten- und Langzeitpflege sowie in der ambulanten Pflege ausreichend auf eine Pandemie mit einem neuartigen Coronavirus vorbereitet waren“, sagt die pflegepolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Kordula Schulz-Asche.

Was können wir lernen?

Um für künftige Pandemien gewappnet zu sein, muss Deutschland eine Reserve an Schutzausrüstung und Testkapazitäten vorhalten. Mit diesem Coronavirus kann Deutschland mittlerweile besser umgehen als im Februar und März, sollte es zu einer zweiten Welle kommen. Einige Ankündigungen, etwa die personelle und finanzielle Stärkung der Gesundheitsämter, müssen aber noch vollständig umgesetzt werden.

Die Bundesärztekammer forderte kürzlich in einem Schreiben an die Gesundheitsminister von Bund und Ländern eine gezielte Nachwuchsförderung, um die Stellen auch besetzen zu können. Im Medizinstudium müssten dafür Themen des öffentlichen Gesundheitswesens stärker verankert werden. Außerdem müsse das Meldesystem der Gesundheitsämter für Infektionskrankheiten endlich digitalisiert werden.

Dennoch: Die Instrumente zur Kontrolle des Infektionsgeschehens ermöglichen ein differenzierteres Vorgehen, bis ein Impfstoff vorhanden ist. Dazu müssen aber auch die Infektionszahlen genauer und für die Öffentlichkeit verständlicher aufgeschlüsselt werden.

In den Statistiken könnte beispielsweise der Unterschied zwischen sporadischen Fällen in der allgemeinen Bevölkerung und einem plötzlichen Anstieg durch Ausbrüche in einem Pflegeheim oder Schlachthof deutlich gemacht werden.

Die Coronakrise zeigt, wie wichtig Regierungshandeln und ein gutes Gesundheitssystem sind. Bei einem Virus wie Sars-CoV-2 kann der Spielraum der Politik allerdings auch an Grenzen stoßen.

Das WIP führt in seinem Vergleich der EU-Staaten aus, dass „Super-Spreader-Events“ in einigen Ländern wie Italien dort zu einer schnellen Verbreitung des Virus und stark steigenden Krankheitsfällen geführt hätten.

„Die Entwicklungen in den früh betroffenen Ländern dienten anderen Regierungen als Vorwarnung, um entsprechende eindämmende Maßnahmen zu ergreifen“, heißt es in der Analyse. Anders formuliert: Deutschland könnte zumindest zu einem gewissen Grad auch einfach Glück gehabt haben.

Mehr: Wie Deutschland seinen Arbeitsmarkt rettete, lesen Sie hier.

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3 Kommentare zu "Lernen aus der Coronakrise: Deutschland gilt als Vorbild im Kampf gegen die Pandemie – aber nicht unbedingt wegen der Krisenpolitik"

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  • Einerseits wird vorgeworfen die Regierung habe übersteuert und habe ökonomische Anreize für leerstehende Betten gestellt, andererseits wird moniert, Deutschland sei nicht recht vorbereitet gewesen. Man kann es dem Autor nicht recht machen.

    Ökonomische Anreize sind *das* Mittel einer freien Marktwirtschaft, um Angebot zu schaffen. Will man Überangebot bzw. Überkapazität schaffen, so muss man über das notwendige hinaus Anreize schaffen. Im Nachhinein zu diskutieren, dass mögliche Realitäten - wohlgemerkt prognostiziert durch wissenschaftliche Modelle - nicht eingetreten sind, ist müßig und geradezu zynisch: Hätte man lieber mit italienischen Verhältnissen getauscht, wenn es zu einem Ansturm gekommen wäre?

    Ärgerlich ist die mangelnde Digitalisierung und digitale Zersplitterung des deutschen Gesundheitswesens, dass fleißig von den Ärzten konterkariert wird und, was natürlich wohl weißlich unter den Teppich gekehrt worden ist, das schoflige Verhalten Deutschlands besonders gegenüber seinen kleinen EU Partnern in der Krise: Deutschland verbot die Ausfuhr von Schutzkleidung und medizinischem Gerät. Wir klopfen uns gegenseitig auf die Schultern und andere hatten die Last zu tragen!

  • Können Sie die Zahlen nochmal überprüfen. Wenn 63 % der Ostdeutschen meinen die Regierung hat einen guten Job gemacht un 65 % der Westdeutschen, wie kann es dann sein das 65 % Gesamtergebnis herauskommt, außer es gab 2000 Westdeutsche und 2 Ostdeutsche bei der Befragung, aber das funktioniert nicht mit den anderen Werten.

  • Nur das Ergebnis zählt !

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