Mangelnde Innovation Das deutsche Schulsystem ist schlecht ausgestattet – digital und pädagogisch

In Sachen Digitalisierung an Schulen kann Deutschland noch aufholen.
Berlin Die Bundesregierung hat ein zwei Milliarden Euro schweres Aktionsprogramm für die Schulen verabschiedet. Die Hälfte des Geldes soll in Nachhilfe fließen, damit Schulkinder ihre Corona-Lücken füllen können.
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) geht davon aus, „dass 20 bis 25 Prozent der Schüler deutliche Lernrückstände wegen der Schulschließungen haben“. Nach einer Studie des Ifo-Instituts lernen die Schüler aktuell kaum mehr als in der ersten Welle – knapp 40 Prozent haben maximal einmal pro Woche Distanzunterricht.
Die zweite Milliarde fließt in den Ausbau der Ganztagsschulen. Denn ab 2025 sollte ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen gelten. Dieser werde nun wegen der Pandemie allerdings „etwas später greifen als geplant“, sagte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD).
Gerade das Ganztagsprogramm soll nicht nur Betreuung sichern, sondern Schulen zugleich innovativer machen. Das sei dringend überfällig, meinten Experten, die das Handelsblatt nach den wichtigsten Innovationen für deutsche Schulen befragt hat - digital, pädagogisch und organisatorisch.
Das Ergebnis: Ideen gibt es genug, sie kommen jedoch nicht oder extrem verzögert an.
„Ganztag ist eine der wichtigsten Innovationen der letzten 20 Jahre“
„Eine der wichtigsten Innovationen der letzten 20 Jahre ist ohne Frage die Einrichtung von Ganztagesangeboten“, sagte Olaf Köller, einer der führenden Experten der Republik, Gründungsdirektor des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen und Chef des Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel. Er ist jedoch skeptisch, ob die großen pädagogischen Hoffnungen erfüllt werden.
Köller erinnert an das erste vier Milliarden Euro schwere Ganztagsschulprogramm des Bundes aus dem Jahr 2003: „Die Reform sollte vor allem bildungsbenachteiligten Schülern Zusatzangebote am Nachmittag machen, um so Bildungsdisparitäten zu reduzieren.“
Die Ganztagsschule, die in anderen Nationen der Normalfall ist, gilt als ideal, wenn sie den Unterricht sinnvoll über den Tag verteilt und mit Spiel, Sport und Musik verknüpft. Auch hilft die zusätzliche Zeit in der Schule Kindern enorm, die zu Hause nicht Deutsch sprechen.
„Letztendlich sind diese Versprechen aber bis heute nicht eingelöst worden, und das, obwohl viel Geld da war und ist“, sagt Köller. „Noch immer leisten wir uns – fast unverändert seit Pisa 2000 – rund 20 Prozent Jugendliche, denen eine Grundbildung für ihren weiteren Weg fehlt“, erinnert die deutsche Pisa-Koordinatorin Kristina Reiss an den hohen Anteil an Schulversagern.
Denn viele Schulen steckten das Geld lediglich in eine Schulmensa und Hortangebote. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) fordert daher nun „ein qualitativ attraktives Angebot und individuelle Förderung“ – doch erzwingen kann das der Bund nicht.
KI könnte helfen – wenn sie eingesetzt würde
Neben dem Ganztag gilt Experten individuelles Lernen als Kernelement innovativer Schule – Pädagogik, die sich stets am Stand des Einzelnen orientiert. Die Digitalisierung liefert heute zahlreiche KI-Programme (Künstliche Intelligenz) dazu, sogenannte Learning Analytics.
Solche „digitalen Coaches, die sich ständig neu auf Lernende einstellen, werden etwa in New York in den ,Schools of One' oder in den ,Steve Jobs Schools' in den Niederlanden schon seit einem Jahrzehnt erprobt“, ärgert sich der FDP-Bildungsexperte Thomas Sattelberger.
Dass all das in deutschen Schulen bisher keine Rolle spielt, erklärt sich der frühere Telekom-Personalvorstand mit dem „besonders strukturkonservativen" Schulsystem: „Öffentliche Verwaltung - und damit auch unser Bildungssystem - ist ja per se noch mal ein ganzes Stück träger als die übrige Gesellschaft. Deutsche Lehrer lieben immer noch ihre Overheadprojektoren.“
Die Uni Tübingen hat ein interaktives „Feedbook“ entwickelt, mit dem Siebtklässler autonom Englisch lernen – aktuell setzten das jedoch gerade mal 30 engagierte Gymnasiallehrer ein. Um das Programm für alle Stufen zu entwickeln, wäre ein Investor nötig, der sich nicht findet, weil die Nachfrage durch das Schulsystem unklar ist.
Moderne Pädagogik kann auch ohne viel Technik Wunder wirken. „Viele innovative pädagogische Ideen kommen auch aus Deutschland“, sagt OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher – „sie werden nur woanders oft effizienter umgesetzt.“
So hat die Forschung gezeigt, dass „die Sprache in allen Fächern die zentrale Rolle für den Bildungserfolg von Kindern spielt, wie Spracherwerb funktioniert und welche Rolle Mehrsprachigkeit spielt", sagt die Frankfurter Linguistik-Professorin Petra Schulz, Autorin des Lehrer-Handbuchs „Vom Sprachprofi zum Sprachförderprofi“.
Dass die Lücke zwischen Forschung und Praxis enorm ist, sei kein Wunder, meint Köller: „Der Innovationsdruck im System ist klein. Lehrkräfte und Schulleitungen sind nicht die Speerspitzen der Innovation, Schulen gehen nicht pleite, die Einzelschule muss auch keine Sanktionen befürchten, wenn Kinder nicht viel lernen.“ Schulpolitikern „fehlen die Visionen, Reformen ersticken im Keim an der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und den Vorbehalten der anderen Lehrerverbände.“
Bringt das Geld auch frischen Wind?
„An guten Beispielen und Programmen mangelt es nicht“, sagt auch Jacob Chammon, Chef des von Bildungs-Stiftungen getragenen Thinktanks „Forum Bildung Digitalisierung“. So habe sich soeben etwa aus dem „Twitterlehrerzimmer“, in dem sich engagierte Lehrer über moderne Methoden austauschen, sogar ein Institut gebildet.
„Was fehlt, ist der Mut, das Thema auf Systemebene anzugehen und dafür zumindest Freiräume zu schaffen“, moniert Chammon. Gerade jetzt, wo der Bund eine Milliarde Euro für die Nachhilfe zur Verfügung stellt, „wäre der Moment für Modellprojekte, die neue Wege gehen“.
Die Opposition hat wenig Hoffnung, dass das neue Geld frischen Wind ins System bringt. „Das Nachhilfepaket geht in die völlig falsche Richtung“, sagt die Bildungspolitikerin der Linken, Birke Bull-Bischoff: „Bessere Bildungschancen lassen sich durch veränderte Lernkulturen erreichen, die Neugier, Interesse und Kreativität fördern, anstatt das ewige Bulimie-Lernen von Test zu Test.“

Aufgrund der Corona-Pandemie befinden sich viele Schülerinnen und Schüler im Homeschooling.
„Es ist eine Schande, dass unsere Schulen noch immer in der Kreidezeit feststecken“, meint auch die grüne Bildungsexpertin Margit Stumpp. „So können wir sie kaum auf eine Welt von morgen vorbereiten, in der reines Faktenwissen weniger bedeutend wird, aber Kreativität, Problemlösungs- und Adaptionsfähigkeiten gebraucht werden.“
Viele moderne Methoden funktionieren natürlich nur mit moderner digitaler Technik – vom Homeschooling in Corona-Zeiten ganz zu schweigen. Wie sehr diese in den Schulen noch immer Mangelware ist, hat die Pandemie schonungslos aufgedeckt. Der Bund hatte seit 2019 insgesamt 6,5 Milliarden Euro für den Digitalpakt bereitgestellt – doch bis Ende 2020 waren lediglich 1,4 Milliarden ausgegeben oder bewilligt.
Schließlich „gehört zu Innovation auch Gestaltungsfreiraum in den Schulen und damit ein Arbeitsumfeld für Lehrkräfte, das nicht nur finanziell, sondern auch intellektuell attraktiv ist“, sagt OECD-Mann Schleicher. „Doch auch daran hapert es in Deutschland.“
Dänemark könnte als Vorbild dienen
„Mehr Autonomie für Schulen“ fordert etwa die Grüne Stumpp. Die Linke Bull-Bischoff meint: „Um Innovationen voranzutreiben, braucht es ,Systemsprenger und -sprengerinnen': Menschen, die innovative Impulse, neue Perspektiven einbringen und zeigen, dass es anders geht."
Das kleine Dänemark macht es vor: Dort hat der Staat vier von 98 Kommunen alle Freiheiten gegeben, das Schulsystem eigenverantwortlich zu modernisieren, berichtet Chammon. Die Projekte sind enorm spannend und vielversprechend.
Digitale und pädagogische Innovationen brauchen jedoch auch Lehrer, die methodisch auf der Höhe der Zeit sind. Um aber die 700.000 Lehrkräfte in Deutschland entsprechend fit zu machen, bräuchte es weit mehr Fortbildungen.
Die Misere im Schulsystem „wird verschärft durch die Laissez-faire-Haltung vieler Kultusministerien, die Lehrkräften weder eine vernünftige Fortbildung anbieten noch sie mit Nachdruck dazu anhalten“, ärgert sich der der Liberale Sattelberger.
Auch Pisa-Koordinatorin Reiss fordert eine Fortbildungspflicht – gerade für die Digitalisierung. „Wir brauchen generell verbindliche Regeln, wie die Fortbildung von Lehrkräften nach dem Examen weitergeht."
An den Universitäten ist jede Menge Expertenwissen zu innovativer Pädagogik vorhanden. Hochschulrektorenpräsident Peter-André Alt, wirbt dafür, dass die Experten an den Unis viel mehr Lehrer fortbilden, anstatt dies Weiterbildungsträgern zu überlassen. Doch dafür bräuchten sie deutlich mehr Personal.
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Quellen:
Anzahl Schulen:
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/235954/umfrage/allgemeinbildende-schulen-in-deutschland-nach-schulart/#:~:text=Die%20Statistik%20zeigt%20die%20Anzahl,in%20Deutschland%2032.332%20allgemeinbildende%20Schulen.
BIP:
https://de.statista.com/themen/26/bip/#dossierSummary
Bildungsausgaben:
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2526/umfrage/entwicklung-der-oeffentlichen-bildungsausgaben/#:~:text=Die%20geplanten%20%C3%B6ffentlichen%20Bildungsausgaben%20in,Euro%20(Soll%2DAngabe).
Wer glaubt, dass man das Schulsystem mit einmal Zahlungen innovativer gestalten kann, glaubt auch an den Weihnachtsmann.
Wie kann man ernsthaft den Anspruch haben einer der Besten sein zu wollen, aber gleichzeitig nichts dafür investieren zu wollen. Das ist widersprüchlich!!
Wenn wir die Bildungsausgaben auf 6% (gemessen am BIP) erhöhen würden, hätten wir jährlich bis zu 40Mrd. EUR zusätzlichen finanziellen Spielraum. Würde man einen Teil davon (sagen wir 10Mrd) nutzen um Schulen zu renovieren bzw. sanieren, dann könnte man bei insgesamt 32.000 Schulen in Deutschland, jede Schule pro Jahr entweder mit 310k Euro fördern oder man könnte alle 3 Jahre 1/3 der Schulen mit ca. 1Mio Euro bezuschussen.
Wenn man Schulen mit einem regelmäßigen Cashflow subventioniert, dann könnten sie auch langfristige Investitionen planen (Planungssicherheit) und dafür sorgen immer auf dem neusten Stand zu sein.
Wir brauchen nachhaltige und verlässliche Lösungen ohne viel Bürokratie (Verwendungsnachweise etc.)