Menschen und Themen des Jahres Mächtig weiblich: Warum 2019 das Jahr der Frauen war
Es ist ein historischer Moment, als Marie Juchacz am 19. Februar 1919 im Reichstag das Wort ergreift. „Meine Herren und Damen!“, beginnt sie – und muss gleich wieder innehalten. Denn „Heiterkeit“, so heißt es im Protokoll, bricht im hohen Haus aus. Es herrscht „Heiterkeit“, weil es das erste Mal ist nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen, dass hier eine Abgeordnete spricht und diese zudem noch andere „Damen“ begrüßen kann.
100 Jahre später besteht neuerlich Anlass zur Heiterkeit. Am 10. Oktober 2019 ist es geschafft: An diesem Tag bekommt der Technologiekonzern SAP als erster deutscher Dax-Konzern eine Vorstandsvorsitzende. Die US-Amerikanerin Jennifer Morgan soll zukünftig gemeinsam mit ihrem deutschen Kollegen Christian Klein den IT-Konzern aus Walldorf führen. Für Hasso Plattner, den Mitgründer und Aufsichtsratschef von SAP, ist es eine zentrale Personalentscheidung, für Morgan ein wichtiger Karriereschritt – und für die deutsche Wirtschaft die Zeitenwende.
Die Berufung Morgans an die Spitze des mit rund 150 Milliarden Euro Marktkapitalisierung wertvollsten deutschen Dax-Konzerns wirkte wie der gesuchte und gefundene Schlussakkord eines Jahres, in dem Frauen wie nie zuvor in der deutschen Geschichte an die Macht gelangten oder ihre erlangte Macht selbstbewusst und mit entschlossener Heiterkeit nutzten. In Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ging es im Jubiläumsjahr für 100 Jahre aktives und passives Frauenwahlrecht mächtig weiblich zu – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und der Welt.
Es ist 2019 natürlich auch das Jahr der Greta Thunberg, der Klimaaktivistin. Doch eben nicht nur. Noch nie zuvor hatten Frauen eine solche Fülle an Macht inne, und noch nie zuvor „gelang“ es Frauen, sich selbstbestimmt von der Macht auch wieder zu verabschieden.
Es gab deshalb für das Handelsblatt genug Gründe und Anlässe, dieses Jahr zum „Jahr der Frauen“ zu erklären. „Ich bin am Ende des Jahres 2019 in puncto Frauen optimistischer denn je“, sagt Jutta Allmendinger, Soziologin und Chefin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Tanja Kewes ist Chefreporterin beim Handelsblatt. Die 40-Jährige beobachtet den Aufstieg von Frauen in Führungspositionen seit Langem. Anfangs war sie gegen eine gesetzliche Quote, inzwischen befürwortet sie eine solche. Kewes selbst ist im Frauennetzwerk „Working Moms“ engagiert. Sie ist Mutter dreier Söhne.
Am bemerkenswertesten ist wohl der Aufstieg einer Frau, deren Karriere eigentlich als beendet galt: Ursula von der Leyen. Die 61-Jährige ist seit dem 6. Dezember auf dem Posten des neuen EU-Kommissionspräsidenten. Sie ist damit nicht nur die erste Frau in dieser Funktion, sie ist nach mehr als 50 Jahren auch die erste Person aus Deutschland, die dieses wohl wichtigste Amt innehat, das die Europäer zu vergeben haben.
Für die gebürtige Niedersächsin, die schon Bundesfamilien- und Bundesverteidigungsministerin war und sich in ihren Ämtern stets stark für Frauen in Führungspositionen einsetzte, ist es die Krönung ihrer politischen Karriere.
Frauen an Europas Spitze
Auch eine andere europäische Institution wird seit diesem Jahr von einer Frau geführt: die Europäische Zentralbank (EZB). Christine Lagarde ist seit dem 1. November die neue oberste Währungshüterin in Europa. Die 63-jährige Französin folgte am Sitz der EZB in Frankfurt auf den Italiener Mario Draghi. Sie schliff damit wie von der Leyen eine bisherige Bastion männlicher Macht. Zuvor war sie schon Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) und Finanzministerin in Frankreich.
Auch sie hat sich in ihrer Karriere stets für Frauen starkgemacht. Und so folgte beim IWF in Washington auf sie die Bulgarin Kristalina Georgiewa.
Mit von der Leyen, Lagarde und der neuen, alten Superkommissarin, der Dänin Margarethe Vestager, die nun in Brüssel für Wettbewerb und Digitales zuständig ist, sind drei der einflussreichsten Posten in Europa mit Frauen besetzt. Die Gemeinschaft nähert sich damit einem Zustand, den sich einst die frühere US-Außenministerin Condoleezza Rice wünschte: „Der Tag muss kommen, an dem es keine Überraschung mehr ist, wenn eine Frau auf einer gehobenen Stelle arbeitet.“
In der Heimat von Rice haben es Frauen unter US-Präsident Donald Trump schwer. Sie sind es jedoch, die die parlamentarische Opposition in den USA ausmachen. Die Demokratinnen Nancy Pelosi und Alexandria Ocasio-Cortez kämpfen für ein modernes Amerika. Pelosi initiierte das Amtsenthebungsverfahren gegen Trump, und Ocasio-Cortez ist der Kopf und die Stimme des jungen, linken und bunten Amerikas. Beide sind nicht nur Vorbilder, sie wollen auch welche sein. So sagte Pelosi: „Ich will, dass Frauen ihre Macht erkennen und sich selbst wertschätzen. Sie müssen verstehen, dass nichts der Politik so gutgetan hat wie mehr weiblicher Einfluss.“
In der deutschen Spitzenwirtschaft steht Jennifer Morgan zwar noch allein ganz oben. Doch diese und einige weitere Personalien haben in Summe das Format, dass Deutschland endlich den Status des Entwicklungslands in Sachen Frauen in Führungspositionen ablegen kann. Beim Traditionskonzern Thyssen-Krupp übernahm Aufsichtsratschefin Martina Merz nach dem Abgang von Guido Kerkhoff kurzerhand selbst den Vorstandsvorsitz.
Bei der Commerzbank ist Bettina Orlopp designierte Finanzvorständin, Sabine Schmittroth designierte Personalvorständin. Und beim Familienkonzern Haniel soll Doreen Nowotne auf Clanchef Franz-Markus Haniel als Aufsichtsratsvorsitzende folgen. Sie wird damit die neben Henkel-Aufsichtsratschefin Simone Bagel-Trah erst zweite Chefkontrolleurin der deutschen Wirtschaft.
Zur neuen Normalität zählt dabei auch, dass Frauen scheitern und aussteigen können, ohne dass hämische Kommentare folgen, die die Fähigkeiten von Frauen wieder grundlegend hinterfragen. Häufig folgen auf Frauen inzwischen sowieso Frauen. Zu den prominenten und durchaus selbstbewussten Abgängerinnen dieses Jahr zählen Janina Kugel (Siemens), Sylvie Matherat (Deutsche Bank), Milagros Caiña Carreiro-Andree (BMW) und Hauke Stars (Deutsche Börse).
„Die Abgänge von Frauen verlieren an Dramatik, wenn man weiß, dass Männer sehr viel häufiger gehen“, sagt Wiebke Ankersen, Geschäftsführerin der auf Diversität spezialisierten Allbright Stiftung. „Vier Frauen und 120 Männer haben zwischen September 2018 und September 2019 ihr Vorstandsmandat in einem der 160 börsennotierten Unternehmen abgegeben. Das sind jeder fünfte Mann und jede 14. Frau.“
Der Frauenanteil in Führungspositionen der deutschen Wirtschaft ist 2019 insgesamt stärker gestiegen als in den Jahren zuvor. Insgesamt haben derzeit zehn der 160 an der Frankfurter Börse notierten Unternehmen mehr als eine, nämlich genau zwei Frauen im Vorstand: Aareal Bank, Airbus, Allianz, Daimler, Deutsche Telekom, Fresenius Medical Care, Kion, SAP, Siemens und Telefónica Deutschland. Und die sogenannte „schwarze Liste“ der Allbright Stiftung für Unternehmen, die gar keine Vorständin haben, schrumpft.
Frauen können auch scheitern
Die Zeitenwende kommt Beobachtern zufolge nicht von ungefähr. „Das öffentliche Bewusstsein für Diversität ist in den vergangenen Jahren gewachsen“, konstatiert Ankersen von der Allbright Stiftung. „Die Frauen, die in Führungspositionen sind, und solche, die aufsteigen möchten, fordern Chancengleichheit zudem selbstbewusster und selbstverständlicher ein als je zuvor.“
Die Folge: Shitstorms und Boykotte, die vor allem Konsumgüter- und Handelskonzerne treffen. So war der Berufung der neuen Vorständinnen bei Zalando ein verhohlener Boykottaufruf von Siemens-Personalvorständin Janina Kugel vorausgegangen. Auf dem „Female Future Force Day“ des Frauenmagazins „Edition F“ in München rief sie: „Da gibt es ein Unternehmen, das mit ‚Z‘ anfängt. Da muss man nun wirklich nicht einkaufen, wenn man mehr Frauen in Führungspositionen haben will!“ Das überwiegend, aber nicht ausschließlich weibliche Publikum johlte und klatschte.

Oben v. l.: Georg Kofler (Social Chain Group), Claudia Panster (Handelsblatt), Sven Afhüppe (Handelsblatt), Karen Heumann (Thjnk), Andreas Bruckschlögl (Bits & Pretzels), Peter Brors (Handelsblatt) sowie unten v. l.: Patrick Adenauer (Bauwens), Tanja Kewes (Handelsblatt), Heiner Thorborg (Personalberatung) und Sarna Röser (Die Jungen Unternehmer).
Die Episode zeigt: Es tut sich auch qualitativ etwas. Vor allem junge, bestens ausgebildete Frauen fordern ihre Teilhabe aktiv ein. Eine der lautstarken Antreiberinnen ist dabei Tijen Onaran. Sie ist Gründerin und Chefin des stark wachsenden Frauennetzwerks „Global Digital Woman“ mit inzwischen eigenen Angaben zufolge mehr als 30.000 Mitgliedern weltweit. Ihres Erachtens bietet vor allem die Digitalisierung eine Chance für Frauen. Ihr neues Buch „Die Netzwerkbibel“ ist schon so etwas wie ein Must-read unter aufstiegshungrigen Frauen. Der Feminismus ist zu ihrem Geschäftszweck geworden.
Auch die anderen schon etablierteren Frauennetzwerke in Deutschland wachsen. Bei den „Working Moms“, einer Vereinigung engagiert berufstätiger Mütter, die 2019 ihr zehnjähriges Jubiläum feierte und mehr als 500 Mitglieder hat, haben sich dieses Jahr in Köln/Bonn und Zürich zwei neue Regionalgruppen gegründet. Und das Frauennetzwerk „Generation CEO“ nahm nicht nur wieder 20 Führungsfrauen neu auf, es löste sich auch selbstbewusst von Gründer Heiner Thorborg. Die rund 200 Führungsfrauen emanzipierten sich in einem neu gegründeten Verein. Headhunter Thorborg bleibt „seinen Damen“ als Ehrenvorsitzender verbunden.
Merkel: „Ich bin immer noch da“
Doch, meine Herren und Damen, das war erst der Anfang! Es bleibt noch viel Luft nach oben. Denn klar ist – bei aller selbstbewussten Heiterkeit: Es müssen noch viele Frauen aufsteigen, bis eine gleichberechtigte Teilhabe in der deutschen Wirtschaft erreicht ist. Nicht ohne Grund forderten die sozialdemokratischen Ministerinnen Franziska Giffey (Familie) und Christine Lambrecht (Justiz) jüngst eine Quote für Vorstände. Und so gilt in Deutschland zwar seit dem Jahr 2016 eine gesetzliche Frauenquote für Aufsichtsräte – allerdings nur für die Gremien von 105 börsennotierten und mitbestimmten Unternehmen.
Die Vereinigung Fidar (Frauen in die Aufsichtsräte) kämpft deshalb weiter – für die Ausdehnung dieser Quote auf die Aufsichtsräte aller börsennotierten und mitbestimmten Unternehmen in Deutschland. Es wären dann die Kontrollgremien von 3500 statt 150 Unternehmen quotiert. „Und dabei darf es dann auch nicht nur um die Erfüllung der Quote gehen, sondern um eine Veränderung der Unternehmenskultur“, sagt Monika Schulz-Strelow, die langjährige Präsidentin der inzwischen rund 900 Fidar-Frauen und -Männer.
In der deutschen Politik ist es inzwischen auffallend still geworden um das Thema Frauenförderung. Vielleicht liegt das auch daran – so paradox es klingen mag –, dass inzwischen viele Spitzenjobs mit Frauen besetzt sind und damit ein wichtiges Ziel erreicht ist. Die CDU wird von Annegret Kramp-Karrenbauer geführt, die Grünen, die SPD und die Linke jeweils von einer Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock, Saskia Esken und Katja Kipping. Und selbst die FDP hat mit Linda Teuteberg immerhin eine Generalsekretärin.
Und zu guter Letzt ist da ja noch Angela Merkel. Sie ist die seit mehr als einem Jahrzehnt mächtigste Frau Deutschlands, wenn nicht gar der Welt. Als Feministin sieht sie sich nicht. Sie führt das Land mit ruhiger Hand, oder wie man in der Wirtschaft sagen würde: Sie macht „business as usual“.
Über die Ambitionen der 65-Jährigen bleibt – gerade auch in puncto Frauenförderung – zu sagen, was sie selbst am 26. August nach ihrer Rückkehr aus der Sommerpause auf dem G7-Gipfel in Biarritz mit ihrem typischen spitzbübischen Lächeln erklärte: „Ich bin immer noch da!“
Mehr: Lesen Sie in unserem Dossier „Menschen des Jahres 2019“, wer in diesem Jahr Großes geleistet hat, wer überrascht oder enttäuscht hat.
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Politikerin des Jahres
Ursula von der Leyen -
Aufsteiger des Jahres
Jennifer Morgan und Christian Klein -
Umsteiger des Jahres
Christine Lagarde -
Ungehorsam des Jahres
Greta Thunberg -
Kämpferin des Jahres
Alexandria Ocasio-Cortez -
Familienunternehmerin des Jahres
Natalie Mekelburger -
Start-up des Jahres
Monja Mühling -
Kampagne des Jahres
Commerzbank zur Fußball-WM der Frauen -
Aussteigerin des Jahres
Sahra Wagenknecht -
Manager des Jahres
Allianz-Chef Oliver Bäte -
Dauerläufer des Jahres
Theodor Weimer -
Nachfolger des Jahres
Alexander und Konstantin Sixt -
Geldmanager des Jahres
Uwe Fröhlich und Cornelius Riese -
Stratege des Jahres
Elon Musk -
Investoren des Jahres
Andreas und Thomas Strüngmann -
Verlierer des Jahres
Peter Fankhauser -
Prominente Todesfälle 2019
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Warum fühlen sich immer Männer hier berufen zu kommentieren??? Interessanter Artikel und bitte mehr davon Frau Kewes und frohe Weihnachten!
Das Peter-Prinzip gilt erkennbar auch für Frauen.
@Thomas Wößner "Die Konsequenz habe ich entsprechend gezogen." Dito,, ich bereits am 9.12.., denn die Redaktion könnte auch vom WDR verantwortet werden. Und GEZ zahle ich sowieso schon.
Dieser Artikel ist m.E. unreflektiert: Z.B. geht der Absatz über Fr. v.d.Leyen in keinster Weise auf die Berateraffäre ein. Überhaupt spielen Qualifikation, Leistung und Ergebnisse keine Rolle. Es geht nur um die Positionierung eines Geschlechtes. Mit den Artikeln: "Wenn Männer das gleiche Ausfallrisiko wie Frauen bergen.." von Corinna Nohn am 16.12. und "Das Jahr der Frauen" von Hans Jürgen Jakobs am 20.12. wird der geneigte Leser nun bald täglich so bearbeitet (neudeutsch "genudged"). Dafür braucht es kein Abo einer Zeitung von der ich fundierte Informationen und tiefgründige Analysen zu Wirtschaftsfragen erwarte. Die Konsequenz habe ich entsprechend gezogen.
Feministischer Sexismus und seine Langzeitwirkungen auf die Gesellschaft sind dabei auch eine interessante Perspektive.