Nach einem Jahr Flüchtlingskrise – die Bilanz

Zu Beginn der Flüchtlingskrise war das zuständige Amt in Berlin völlig überfordert.
Berlin Anfang Juli in Berlin: Um 9.30 Uhr liegt der große Platz vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) fast verlassen da. In den Wartezelten sitzen nur gut 20 Flüchtlinge. Vor Haus A mit dem Zugang zu den Sachbearbeitern drängelt niemand. Vor Haus J stehen etwa 100 Leute in einer Schlange und warten auf ihren Aufruf, um den Antrag für die Gesundheitskarte zu stellen.
Die Schlange rückt ruhig vorwärts. Alles wirkt geordnet und friedlich. Vor einem Jahr herrschten hier permanente Überfüllung, Verzweiflung und Aggressionen. Hat Berlin aus seinem Flüchtlingschaos gelernt? Schließlich ist Wahljahr. Am 18. September wird ein neues Abgeordnetenhaus gewählt.
Rückblende Sommer 2015: Hunderte Flüchtlinge drängen sich Tag für Tag vor Berlins Zentraler Aufnahmestelle, dem Lageso. Sie sind erschöpft und teils traumatisiert von Krieg, Vertreibung und monatelanger Flucht. Die Menschen warten stundenlang auf ihre Erstregistrierung. Der Kampf um die besten Plätze in den Schlangen beginnt schon nachts.
Die Ankömmlinge sind Wind und Regen oder sengender Hitze über 30 Grad ausgesetzt, Bänke gibt es nicht - und niemand versorgt sie in den ersten Tagen des Andrangs von behördlicher Seite mit dem Nötigsten. Diese Bilder von humanitärer Inkompetenz gingen um die Welt. Sie machten Berlins Lageso mitten in der Flüchtlingskatastrophe zum traurigen Synonym behördlichen Versagens.
Hunderte ehrenamtliche Berliner und Touristen springen ein, betreut von der Bürgerinitiative „Moabit hilft“. Sie organisieren in monatelangem Tag- und Nachteinsatz Wasser, Snacks, Bänke, Sonnenschutz, Kleidung, Hygieneartikel, Windeln, Kinderwagen, Ausruhzelte, eine medizinische Erstversorgung, später auch warme Mahlzeiten für mehr als 1000 Menschen am Tag. Alles aus Spenden.
„Vom 15. Juli an haben wir keinen mehr erreicht im Lageso, hatten keine Ansprechpartner mehr“, sagt Diana Henniges, Sprecherin von „Moabit hilft“ heute. Es sei unbeschreiblich gewesen, wie die Behörde die Verantwortung an die Ehrenamtlichen abgegeben habe. Dass sich einiges im Laufe der Monate gebessert habe, sei vor allem das Verdienst der Ehrenamtlichen. „Wir haben nie locker gelassen, immer auf vom Staat bezahlte Verbesserungen gedrängt.“
Das Lageso wurde von dem europaweiten Flüchtlingszustrom vor allem aus Syrien, Afghanistan, Irak und afrikanischen Staaten buchstäblich überrollt und war hoffnungslos überfordert. Im Juni verdreifachten sich die Zahlen der Schutzsuchenden bundesweit im Vergleich zu 2014. Im Juli steigt der Andrang weiter. Am 6. Juli verzeichnet Berlin einen Rekord: 1900 Flüchtlinge wollen an einem Tag beim Lageso vorsprechen. Fast 7000 melden sich im Juli in Berlin.
Von September 2015 an schnellen die Flüchtlingszahlen in die Höhe, nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Ende August das sogenannte Dublin-Verfahren für Syrer ausgesetzt hat. Es sieht eine Rückführung von Flüchtlingen in das EU-Land vor, in dem sie zuerst angekommen waren. In Berlin verdoppelt sich im September die Zahl der Flüchtlinge noch einmal auf 8.627. Auf dem Höhepunkt im November sind es 9908, zuerst in Berlin gemeldet haben sich sogar 11.487.
Für Negativschlagzeilen sorgt auch der Fall des kleinen Mohamed im Oktober. Im Gedränge vor dem Lageso verschwindet der Flüchtlingsjunge spurlos. Wochen später wird bekannt, dass ein 33-jähriger Brandenburger sich die unübersichtliche Lage vor dem Hauptgebäude zunutze gemacht hat, um den Vierjährigen zu entführen, zu missbrauchen und später zu erdrosseln. Der Mordprozess gegen Silvio S. läuft gerade in Potsdam.