Nachruf Der Denker aus Dresden: CDU-Politiker Kurt Biedenkopf ist tot

Der Politiker war lange Jahre Ministerpräsident von Sachsen.
München Auf das Normale, das Vorhersehbare musste man sich bei ihm nie vorbereiten. Wer ihn besuchte, wurde überrascht. Mit einer Idee, einer neuen Deutung bekannter Vorgänge, mit originellen Vorschlägen. Das blieb so bis in die späten Jahre seines Lebens, wenn man dasaß in seiner Kanzlei in Dresden, vollgestopft mit Büchern und Papieren.
Fragte man den früheren Ministerpräsidenten Sachsens dann beispielsweise nach dem Markenkern der Parteien, vor allem auch seiner CDU, dann kam zurück, dass sich politische Gruppierungen solcher Konsumgüter-Betrachtungen entzögen. Dass sie soziale Gebilde seien, Ergebnisse des individuellen Handelns. Keine Frage des Marketings also.
„Als Partei verkaufen wir keine ,Produkte‘“, dozierte er, „es gibt auch keine politischen Marken, sondern politische Überzeugungen.“ Und beschwerte sich, unser Leben sei „derart ökonomisiert, dass wir auch unsere Sprache und den politischen Diskurs ökonomischen Begriffen unterwerfen“. Es ginge in der Politik ja nicht um „Markenartikel wie Waschmittel“. Auf verblüfftes Nachfragen lächelte der frühere Wirtschaftsmanager Kurt Biedenkopf dann.
Am Donnerstagabend ist er in Dresden friedlich im Kreis sein Familie eingeschlafen, wie die Staatskanzlei am Freitag mitteilte. Der CDU-Politiker wurde 91 Jahre alt.
Biedenkopfs Aussagen verblüfften, weil er ja mal von 1971 bis 1973 in der Geschäftsleitung des Düsseldorfer Henkel-Konzerns saß, dessen Produkt Persil ganz marketingtechnisch schon immer weißer als weiß wusch. Und natürlich war er danach für vier Jahre PR- und Marken-begabter Generalsekretär seiner Partei, der im Bundestagswahlkampf 1976 einen Slogan mit nachhaltiger Wirkung schuf: „Freiheit statt Sozialismus“. Der baden-württembergische CDU-Ministerpräsident Hans Filbinger hatte zuvor im „Ländle“ mit der Parole „Freiheit oder Sozialismus“ haushoch gewonnen, da konnte man auf Bundesebene nicht ganz anderes propagieren.
Freundschaft mit Kohl endete spektakulär
Doch in der alten West-Bundesrepublik reichte die „Freiheit statt Sozialismus“-Parole zwar für heute traumhaft anmutende 48,6 Prozent und für den Status der stärksten Bundestagsfraktion, aber die Regierung verblieb, wenn auch knapp, bei SPD und FDP.
Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Biedenkopf gestorben
Im Jahr nach der Wahl endete dann spektakulär die Freundschaft Biedenkopfs mit Helmut Kohl, der wie er in Ludwigshafen geboren war. Man stritt über die Strategie. Der CDU-Chef entließ seinen Generalsekretär, eine Kränkung und Niederlage, die Biedenkopf dem späteren Kanzler nie verziehen hat.
Der Doktor der Rechte, der über Ökonomie promovierte und in Frankfurt habilitiert wurde und der auch zwei Jahre Rektor der Bochumer Universität war, konnte durchaus nachtragend sein. Er, den sie gerne in der CDU den „kleinen Professor“ nannten, war dann in den Jahren danach stets im Lager der parteiinternen Anti-Kohlianer zu finden, ein fein denkender Intellektueller, dem das dumpfe Machtgebaren seines einstigen Polit-Kumpels zu martialisch, zu wenig raffiniert war. Eine Feindschaft fürs Leben.
Logisch, dass er die medienpolitische Vereinnahmungsstrategie Kohls von Herzen ablehnte. Der Regierungschef hatte sich mit dem Münchener Medienhändler Leo Kirch zusammengetan und sich in dessen TV-Sender Sat 1 eine eigene Sendung („Zur Sache, Kanzler!“) zimmern lassen. Biedenkopf fand das degoutant. Er selbst war ja längst der Gütersloher Medienfamilie Mohn verbunden, dem Kirch-Konkurrenten, und nahm in deren Bertelsmann Stiftung über viele Jahre hinweg wichtige Positionen ein.
Zur Wirtschaft hatte der Freigeist Biedenkopf, der 2015 die „Ökonomisierung“ so sehr beklagte, stets enge Kontakte. Er stammte ja aus einer Unternehmerfamilie, sein Vater war Direktor der Buna-Werke im sächsischen Schkopau. Und schließlich heiratete er 1979 Ingrid Kuhbier, die Tochter des Frankenthaler „Pegulan“-Industriellen Fritz Ries.

1979 heiratete der CDU-Politiker Ingrid Kuhbier, die Tochter des Frankenthaler „Pegulan“-Industriellen Fritz Ries.
Früh wurde der gewiefte Jurist zum Experten der Mitbestimmung in Betrieben und prüfte zwischen 1968 und 1970 im Auftrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die weitere Ausgestaltung der Arbeitnehmer-Teilhabe. Das Experten-Gremium ging als „Biedenkopf-Kommission“ in die Geschichte ein. 35 Jahre später war er in gleicher Mission unterwegs, diesmal auf Bitten des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder. Seine Kompetenz war größer, als es Parteigrenzen üblicherweise erlauben. Er blieb ansprechbar und intellektuell belastbar weit über das christdemokratische Milieu hinaus.
Neue Chancen für Biedenkopf durch die Wiedervereinigung
Ihn selbst beschäftigten bis zum Schluss die Ressourcen-Ausbeutung der Industrieländer sowie das demografische Problem der Überalterung und das fragile Rentensystem. Eine sozialpolitische Ausdehnung auf Schuldenbasis fürchtete er, alles nur zum Ziel der Stimmen-Maximierung.
Zum Sechzigsten von Biedenkopf hatte August Everding, damals Präsident des Deutschen Bühnenvereins, die Lobhuldigung gedrechselt: „Bei Biedenkopf habe ich immer den Eindruck, als ob ihn unserer Dummheit maßlos aufregt.“ Ganz falsch war das nicht. Der Professor machte es niemandem leicht, sich selbst auch nicht.
Hatte Biedenkopfs politischer Karriere in Nordrhein-Westfalen noch der große Erfolg gefehlt (er kam am sozialdemokratischen Menschenfänger Johannes Rau nicht vorbei), so eröffnete ihm die Wiedervereinigung ganz neue Chancen.

Als Kanzler entließ Kohl seinen CDU-Generalsekretär, weil sie sich auf keine gemeinsame Strategie einigen konnten.
Vergessen war der 1988 angetretene Rückzug aus der Politik, verdrängt der Ärger über die Machtmaschine Kohl: Biedenkopf trat im Oktober 1990 bei der sächsischen Landtagswahl an und holte für die CDU mit 53,8 Prozent die absolute Mehrheit. Das gelang ihm noch zwei Mal, aber Kohl verlor im Parteipräsidium nie ein Wort über den Triumph. Biedenkopf grollte. Bis Januar 2002 blieb er Ministerpräsident des Freistaates, geachtet im Volk, das seine geistige Unabhängigkeit schätzte, zunehmend kritisiert im politischen System, zum Beispiel aufgrund eines gelegentlich barocken, selbstherrlichen „Kurfürst Kurt“-Führungsstils und einiger kleinerer Affären.
Große Karriere blieb Biedenkopf versagt
Nach dem Rücktritt widmete sich Biedenkopf seinem Lieblingssujet, den langen Linien der Gesellschaft, der Zukunft eines Systems, das sich nicht nur von Wahltermin zu Wahltermin hangelt. Mit Meinhard Miegel saß er im Vorstand des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, mit Rudolf Bahro hat er das sozio-ökologische Zukunftsprojekt „LebensGut“ in Pommritz gefördert, er war unter anderem Gründungspräsident der Dresden International University, leitete das Kuratorium der Hertie School of Governance und den Senat der Deutschen Nationalstiftung, Letzteres in enger Abstimmung mit Helmut Schmidt, einem anderen Granden.
Die Zivilgesellschaft hatte in Biedenkopf stets einen beredten, eigenwilligen Anwalt. Die ganz große Karriere blieb ihm versagt, er war zum Beispiel als Präsident der EU-Kommission genauso im Gespräch wie als Interimschef der CDU. Und dass sich seine Tagebücher 2015 im Buchhandel nicht verkauften, durch die Querfinanzierung des Landes Sachsen jedoch viel Ärger machten, war ein störender Moment in der Endphase eines bedeutenden politischen Lebens.
Er war stets ein streitbarer, gelegentlich sogar provokanter, immer inspirierender Beobachter und Gestalter der europäischen Nation Deutschland. Er hasste Erstarrung, die er überall im Land sah, und war in Innovation verliebt, die er überall vermisste. So wurde er im Grunde nie richtig „alt“, denn es blieb ja die Lust, sich für Neues zu interessieren und sich einzumischen. „Man wird alt, wenn man nicht mehr neugierig ist“, sagte der Denker aus Dresden erst jüngst.
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Ein Nachruf, der allen zur Lektüre empfohlen sei, die sich mit Kurt Biedenkopf und seinem politischen Nachlass befassen!
Ich selbst durfte Professor Biedenkopf Anfang der 90er Jahre in der Sächsischen Staatskanzlei dienen - für mich eine unvergessliche und bereichernde Erfahrung über eine beeindruckende und prägende politische Persönlichkeit. Aus meiner Sicht war er ein absoluter Glücksfall für Sachsen und ein durchsetzungsstarker Wortführer der neuen Länder. "Aufbau Ost vor Ausbau West": damals eine wichtige Weichenstellung, die mit seinem Namen verbunden ist.
Nicht durchsetzen konnte er sich freilich mit seinen Vorstellungen über eine grundlegende Reform der Alterssicherung. In der nächsten Legislaturperiode kommt die Rente erneut auf die Tagesordnung. Wie wäre es damit, das Biedenkopf-Konzept aus der Schublade zu holen, es zu aktualisieren und dann als eine Entscheidungsgrundlage für ein zukunftsfestes System der Alterssicherung zu nutzen?