NSU-Prozess: Psychiater hält Zschäpe für vermindert schuldfähig
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NSU-ProzessPsychiater hält Zschäpe für vermindert schuldfähig
Der Gerichtspsychiater hat der mutmaßlichen NSU-Terroristin Beate Zschäpe volle Schuldfähigkeit attestiert. Ein von Zschäpes Anwälten benannter Gutachter widerspricht - lässt aber Fragen offen.
Der Psychiater bescheinigte Beate Zschäpe eine „erheblich beeinträchtige Steuerungsfähigkeit“.
(Foto: AFP)
München Die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe ist nach Einschätzung eines von ihren Vertrauens-Anwälten benannten Gutachters vermindert schuldfähig. Der Psychiater Joachim Bauer attestierte der Hauptangeklagten im Münchner NSU-Prozess eine schwere dependente (abhängige) Persönlichkeitsstörung. Zschäpe sei hochgradig abhängig von ihrem Freund und Komplizen Uwe Böhnhardt gewesen, sagte Bauer am Mittwoch vor dem Oberlandesgericht. Er bescheinigte ihr deshalb eine „erheblich beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit“. Zschäpe habe es daher nicht geschafft, das Trio mit Böhnhardt und Uwe Mundlos zu verlassen - trotz der Verbrechen, die ihre Freunde verübt haben sollen, und trotz körperlicher Misshandlungen durch Böhnhardt.
Bauer, den Zschäpes Vertrauens-Anwalt Mathias Grasel im sogenannten Selbstladeverfahren in den Prozess gebracht hatte, kam damit zu einem völlig anderen Schluss als der vom Gericht bestellte Sachverständige, der Psychiater Henning Saß. Dieser hatte der 42-Jährigen volle Schuldfähigkeit attestiert. Saß hatte unter anderem Zeugen zitiert, laut denen Zschäpe über ein „gesundes Selbstbewusstsein“ verfüge und ihre Freunde „im Griff gehabt“ habe. Das spreche für „Stärke und Selbstbewusstsein nach außen und gegenüber männlichen Partnern“.
Wie die Politik die NSU-Affäre aufklären will
NSU-Prozess
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Im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München geht es – einfach gesagt – um Schuld oder Unschuld von Beate Zschäpe, des einzigen noch lebenden Mitglieds des rechtsextremen NSU-Trios, und vier mutmaßlichen Helfern. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern wollen die Hintergründe der Gewaltserie aufklären. Ein Überblick.
Ein erster Untersuchungsausschuss des Bundestages stellte im August 2013 kolossales Versagen der Sicherheitsbehörden fest. Vor allem der Verfassungsschutz, aber auch andere Sicherheitsbehörden hatten demnach großen Anteil daran, dass lange nicht Rechtsextremisten im Visier der Behörden wegen der Mordserie standen. Seit dem 24. November 2015 ist ein zweiter Ausschuss bei der Arbeit. Er soll sich vor allem auf das Umfeld und die Unterstützer des Terrortrios konzentrieren und die Rolle von V-Leuten konkret ins Visier nehmen.
Dabei rückten auch neue Erkenntnisse über den 2014 gestorbenen V-Mann „Correlli“ in den Fokus – bekannt wurde, dass trotz langer Untersuchungen über Jahre Handys und SIM-Karten des V-Manns im Bundesamt für Verfassungsschutz nicht ausgewertet wurden. Für die Abgeordneten ist die Ausschussarbeit auch deshalb wichtig, weil Neonazis und Rechtsextreme bis heute viele Taten verüben – mögliche neue rechtsterroristische Strukturen sollen untersucht werden.
(Foto: AP)
Untersuchungsausschuss Thüringen
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Der Thüringer Landtag arbeitet seit Anfang 2015 in zweiter Runde die Versäumnisse der Behörden auf. Der erste Untersuchungsausschuss hatte 2014 seinen fast 1900 Seiten umfassenden Abschlussbericht vorgelegt – und unter anderem dem Thüringer Verfassungsschutz schwere Fehler bei der Suche nach dem NSU-Trio vorgeworfen. Aktuell werden die Geschehnisse nach dem Auffliegen des NSU aufgearbeitet. Es geht um die Frage, was genau am 4. November 2011 in Eisenach geschah, als das ausgebrannte Wohnmobil mit den Leichen der mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gefunden wurde.
Zuletzt rückte auch die Frage nach Konsequenzen für die Ausschussarbeit aus dem Fund von Böhnhardts DNA an der Fundstelle der getöteten Schülerin Peggy in den Fokus. Der Untersuchungsauftrag lässt laut der Ausschussvorsitzender Dorothea Marx (SPD) lässt der Untersuchungsauftrag auch die Prüfung zu, ob die Behörden des Landes Hinweisen auf Fälle von Kindesmissbrauch in der rechten Szene ausreichend nachgegangen seien.
Auch in Sachsen befasst sich ein zweiter Untersuchungsausschuss mit dem NSU-Komplex. Anders als beim Ausschuss in der vorangegangenen Legislatur, der sich vor allem mit der Frage beschäftigte, warum das Terror-Trio so lange unentdeckt bleiben konnte, steht nun die Zeit nach dem Auffliegen des NSU im Zentrum der Untersuchung. Nach neuen Medienberichten über NSU-Mitwisser im Umfeld des Verfassungsschutzes wollen die sächsischen Abgeordneten auch den Präsidenten des Bundesamtes, Hans-Georg Maaßen (Foto), und dessen Vorgänger befragen.
In Baden-Württemberg hat der erste Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex im Februar 2016 seine Arbeit beendet. Ergebnis: Das Landtagsgremium hält die Polizistin Michèle Kiesewetter für ein Zufallsopfer des NSU. Es gebe auch keine begründeten Zweifel daran, dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Täter gewesen seien. Ein zweiter NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag in Stuttgart nahm in diesem Sommer seine Arbeit auf, um die Kontakte und Bezüge der Rechtsterroristen nach Baden-Württemberg näher zu durchleuchten.
Zschäpe hatte fast 14 Jahre mit Böhnhardt und Mundlos im Untergrund gelebt. Während dieser Zeit sollen die beiden Männer zehn Menschen erschossen haben. Neun der Opfer waren türkisch- oder griechischstämmige Gewerbetreibende. Zschäpe, die von den Morden immer erst danach erfahren haben will, ist wegen Mittäterschaft an allen Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ angeklagt.
Bauer, der als Professor in Freiburg arbeitet, hatte - anders als Saß - insgesamt 14 Stunden lang mit Zschäpe sprechen können. Aus diesen Gesprächen berichtete er nun sehr ausführlich: unter anderem von „unsicheren Bindungserfahrungen“ Zschäpes in deren ersten Lebensjahren und einer oft volltrunkenen Mutter. Das „schlimmste Ereignis“ für Zschäpe sei gewesen, als sich Böhnhardt nach einer ersten gemeinsamen Zeit von ihr getrennt habe, berichtete Bauer.
Nach dem Abtauchen des Trios in den Untergrund habe Zschäpe dann beständig Angst gehabt, Böhnhardt könnte sich erneut von ihr trennen. Deshalb habe sie ihm auch immer wieder verziehen.
Fünf Verschwörungstheorien zum NSU
Der Geheimdienst steckt mit dem NSU unter einer Decke, Akten wurden absichtlich geschreddert und die Flucht der Terroristen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe wurde von den Behörden geplant.
Der NSU konnte nicht ohne Helfer auskommen. Die aufgedeckte baden-württembergische „Neoschutz-Staffel“ (NSS), angeführt von dem ehemaligen Soldaten Matthias K. – Spitzname „Matze“ –, hat die Mord- und Anschlagserie mitgeplant und -durchgeführt.
Florian H. kündigte 2012 an, zum NSU und der NSS auszusagen. Im September 2013 nimmt er sich das Leben. Bevor der V-Mann „Corelli“, der seit 2005 CDs mit dem Kürzel NSU vertrieb, umfangreich aussagen konnte, stirbt er im April 2014 einen natürlichen Tod. Das Gleiche geschieht bei Florian H.’s Freundin im März 2015. Die Theorie hinter dem „Zeugensterben“: Zeugen mussten sterben, weil sie zu viel wussten.
Laut einer Zeugenaussage habe der NSU mit einem Zusammenbruch der Bundesrepublik gerechnet und sich schließlich für den „Tag X“ und die zu erwartenden „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ wappnen wollen. „Waffen wurden verherrlicht, jeder wollte sie haben, jeder hat darüber gesprochen. Das gehörte zum guten Ton und galt als Statussymbol“, sagte der ehemalige V-Mann „Piatto“ im NSU-Prozess.
Ein Obduktionsbericht lässt Zweifel an der offiziellen Selbstmordversion der beiden mutmaßlichen Rechtsterroristen aufkommen. Nach einem missglückten Banküberfall sollen die beiden Neonazis Selbstmord begangen haben. Dem Bericht zufolge fanden sich weder Rußpartikel in der Lunge Böhnhardts noch in der von Mundlos. Eine Interpretation dieser Ungereimtheit: Die Polizei hat sie exekutiert.
Zschäpe wurde nach eigenen Angaben häufiger und massiver von Böhnhardt verprügelt als bisher bekannt. Bauer berichtete nach seinen Gesprächen mit der NSU-Hauptangeklagten von Schlägen ins Gesicht, Tritten in den Bauch und in den Rücken - und das meist aus banalen Anlässen. Er halte Zschäpes Darstellungen „in hohem Maße für glaubwürdig“, sagte Bauer.
Saß hatte bei seinem Gutachten auf viele Zeugenaussagen verwiesen, die Zschäpe als „freundlich“ oder „aufgeschlossen“ beschrieben hätten, aber auch als „selbstbewusst“, in einer „gleichberechtigten Position in der Dreiergruppe“ und „in der Lage, ihre Meinung zu vertreten“. Sie sei durchweg als „energisches, wehrhaftes und anerkanntes Mitglied in der rechtsextremen Szene“ beschrieben worden. Auch in einem Brief an einen inhaftierten Neonazi habe sich Zschäpe als „selbstbewusst, autark, stolz, unbeugsam“ präsentiert. Der Brief widerspreche Zschäpes Selbstdarstellung von „einer schwachen, abhängigen, fremdbestimmten, sich resignierend unterordnenden Person“, sagte Saß. Auf diesen Brief ging Bauer nicht ein.
Der Psychiater Pedro Faustmann, den Zschäpes Alt-Verteidiger benannt hatten, hatte Saß zuletzt Mängel bei der Begutachtung Zschäpes vorgehalten. Bauer und Faustmann werden nun Mitte Mai noch einmal vom Gericht befragt. Die bis dahin geplanten Prozesstage entfallen.
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