Ökonomie Vier Wege, wie die Wirtschaftsweisen ihren Einfluss stärken könnten

Welche Bedeutung der Rat hat und welche er haben soll, dazu gibt es unterschiedliche Sichtweisen.
Berlin Mehr als ein Dutzend Male hat Angela Merkel das Jahresgutachten des „Sachverständigenrats (SVR) zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ schon entgegengenommen. Dennoch war der Bundeskanzlerin der Ablauf bei der Vorstellung im vergangenen November anfangs nicht klar.
Auf die Begrüßung der Wirtschaftsweisen folgten einige Sekunden des Stammelns, bis sie sagte: „Es beginnt – glaube ich – Herr Feld.“ Die Vorstellung fand wegen der Pandemie erstmals digital statt. Die Kanzlerin schien dabei mit der Choreografie für die Übergabe nicht allzu vertraut – was manche auch als Symbol des mangelnden Interesses deuten.
Im Mittelpunkt des politischen Geschehens stand der Rat wenige Wochen später. Jedoch nicht wegen der Inhalte des Gutachtens, sondern weil die Regierung sich nicht bei der Besetzung des Rats einigen konnte – sodass Feld aus dem Gremium ausscheiden musste.
Beide Vorkommnisse haben unter Deutschlands führenden Ökonomen nun eine Debatte ausgelöst: Muss sich an dem mehr als ein halbes Jahrhundert alten Rat etwas grundlegend ändern?
Die neue Bundesregierung hätte die Gelegenheit dazu: Sobald die neue Koalition steht, wird der Rat durch die Berufung des fünften Weisen ohnehin auf die Agenda gelangen. Es wäre der perfekte Zeitpunkt, den SVR grundsätzlich zu reformieren. Nur stellt sich die Frage: Wie? Das Handelsblatt hat darüber mit aktuellen und früheren Wirtschaftsweisen sowie weiteren bedeutenden Ökonomen gesprochen.
Option 1: Die Regierung anstatt die Öffentlichkeit beraten
Ludwig Erhard wusste immer viel mit den USA anzufangen. Bei seinen Reisen über den Atlantik lernte der damalige Bundeswirtschaftsminister ein Getränk kennen, das er fortan auch in der Bundesrepublik zu trinken pflegte: Whisky auf Eis, ‚on the rocks‘, wie die Amerikaner sagen.
Was Erhard auch gefiel: Seit 1946 residiert im Weißen Haus der „Council of Economic Advisers“, in dem der US-Präsident drei ökonomische Gefolgsleute um sich schart. Bloß Erhard ging es weniger um Beratung. „Der Dicke“ wusste schon, welche Ideen er mit seiner Sozialen Marktwirtschaft verfolgen wollte.
Mit der Einrichtung des SVR im Jahr 1963 reagierte Erhard vielmehr auf die aggressiver werdenden Lohnforderungen. Fünf „Wirtschaftsweise“ sollten der Öffentlichkeit die wissenschaftlich richtigen Maßnahmen nennen – insbesondere mit Blick auf die Forderungen der Gewerkschaften. Es war kein Zufall, dass der Rat im ersten Gutachten das Konzept der „produktivitätsorientierten Lohnpolitik“ propagierte.
Doch lange sollte die argumentative Stütze SVR nicht Bestand haben. Und der damalige Kanzler Konrad Adenauer sollte recht behalten, als er Erhard bei der Einrichtung des Gremiums gefragt haben soll: „Woll’n se sich ’ne Laus in’n Pelz setzen?“

Der frühere Wirtschaftsminister und spätere Kanzler hatte einst den Sachverständigenrat initiiert – zur Begutachtung der Lage, nicht zur Beratung.
Nach dem ersten Gutachten inklusive Erhard’scher Argumentationslinie legten die Ratsmitglieder im darauffolgenden Jahr ein Sondergutachten vor, in dem sie flexible Wechselkurse postulierten – damals eine revolutionäre Forderung. „Das Gutachten haben wir zum Kanzleramt geschickt und danach nie mehr etwas davon gehört, es gab nur die Quittung des Pförtners“, berichtete das damalige Ratsmitglied Herbert Giersch einst.
Dieses schwierige Verhältnis zur Politik habe sich immer weiter verstärkt, meinen einige. So sagt Reint Gropp, Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH): „Der Einfluss auf die Politik ist kaum noch vorhanden. Die Gutachten sind kaum überreicht, da landen sie schon in den Schubladen der Ministerien.“ Ein Indiz: Der SVR lehnte immer wieder einen gesetzlichen Mindestlohn ab – die Bundesregierung führte ihn 2014 ein.
Der frühere SVR-Vorsitzende Bert Rürup erinnert sich bestens. Im Jahresgutachten von 2008 stellte er sich mit einem Minderheitsvotum zugunsten eines gesetzlichen Mindestlohns gegen die übrigen Ratsmitglieder. Dass die Politik erst sechs Jahre später reagierte, ist für ihn ein Zeichen, dass sein Votum sicher nicht der ausschlaggebende Faktor gewesen sei.
Der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, sagt: „Der direkte Einfluss auf die Politik ist begrenzt, der Sachverständigenrat beeinflusst aber die öffentliche Meinung und dadurch indirekt die Politik.“ Auch wenn der Rat häufig als das wichtigste Beratergremium der Regierung bezeichnet wird, soll er in Wahrheit eben bloß begutachten.
Unabhängigkeit des Rates ist seine Stärke
Doch an Begutachtungsgremien herrsche in Deutschland angesichts der traditionsreichen wissenschaftlichen Beiräte vieler Bundesministerien und der zahlreichen öffentlich geförderten Forschungsinstitute wahrlich kein Mangel, findet Rürup. „Erhard hätte beim US-Vorbild bleiben sollen. Das Format des Councils ist deutlich sinnvoller als unser SVR“, sagt er. Der Council beim Präsidenten hat nur einen Adressaten: den Präsidenten. Die Laus in der Jackeninnentasche hat eben mehr Einfluss als die Laus im Pelz.
Bloß stellt sich die Frage, ob die Innentasche nicht schon besetzt ist. „Über ihre Chefvolkswirte im Bundeskanzleramt, dem Wirtschaftsministerium und dem Finanzministerium hat die Bundesregierung doch bereits interne Beratungsexpertise“, sagt der frühere SVR-Vorsitzende Christoph Schmidt.
Einen mangelnden Einfluss sieht er nicht. Vielmehr sei die Distanz die größte Stärke des SVR. „Weil der Rat nicht auf Weisung der Politik handelt, ist er in der Lage, Fehlentwicklungen anzusprechen, die die Politik nicht auf dem Schirm hat“, meint Schmidt.
Das gilt ebenso für Missstände, die die Politik nicht wahrhaben will. Ein bei der Regierung angesiedelter Council mag vielleicht ähnlich scharfe Kritik äußern, wie es die Wirtschaftsweisen in ihrem 2013er-Gutachten mit dem Titel „Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik“ getan hatten. Der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel soll die Weisen daraufhin einbestellt und ordentlich abgewatscht haben, berichten Beteiligte. Dass ein solches Gutachten in einer Council-Struktur aber den Weg an die Öffentlichkeit gefunden hätte, darf bezweifelt werden.

Der frühere SVR-Vorsitzende Christoph Schmidt (r.) und sein Nachfolger Lars Feld, 2017 bei der Übergabe des Jahresgutachtens an Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Die Unabhängigkeit ermögliche kritische Äußerungen, sagt Ratsmitglied Monika Schnitzer. Doch auch der Council-Struktur kann sie etwas abgewinnen: „Er steht täglich im Austausch mit der Administration und ist deshalb deutlich näher an der Regierungsarbeit dran, kommentiert sie aber nicht in der Öffentlichkeit.“ Beide Konstruktionen hätten Vor- und Nachteile.
Das ehemalige Ratsmitglied Peter Bofinger schlägt daher vor: „Einen internen Rat bei der Regierung nach Council-Vorbild könnte man einrichten, dann aber zusätzlich.“ Laut seinem Ex-Kollegen Volker Wieland würde damit ein Sparringspartner geschaffen, der den Wirtschaftsweisen bislang fehle.
Ein anderer Vorschlag kommt von Ratsmitglied Achim Truger, der sich den SVR in einer mittleren Position Beratung und Begutachtung wünscht. „Der Rat muss sich davor hüten, einseitige Empfehlungen zu machen“, sagt er. Einfach nur begutachten reiche aber auch nicht, es müssten vielmehr verschiedene wirtschaftspolitische Optionen aufzeigt werden.
Option 2: Die Papierflut auf mehrere Veröffentlichungen verteilen
Mitte November wird mancher Regierungsbeamte wieder schwer zu tragen haben. Dann veröffentlicht der SVR sein neues Jahresgutachten. 406 Seiten hatte es 2020, davor 368, in der Vergangenheit hatte mancher Band auch um die 1000 Seiten. Die Themenpalette der Ökonomen reicht inzwischen bis zu digitaler Gesundheit und der Erwerbsminderungsrente.
Die Kontroverse um die Aufmerksamkeit des Rates leidet auch darunter, dass es gar nicht so viel Aufmerksamkeit geben kann, wie der Rat an Themen abarbeitet. Die Weisen melden sich zwar auch immer wieder zwischendurch zum Beispiel mit Sondergutachten zu Wort. „Ich habe mich zudem dafür eingesetzt, dass wir mehr unterjährig veröffentlichen, und das haben wir auch getan“, sagt Ratsmitglied Wieland.
Der Großteil der Analysen findet sich aber weiter geballt im Jahresgutachten. Der Präsident des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo), Gabriel Felbermayr, kritisiert: „Die Fixierung auf das Jahresgutachten macht den Rat schwerfällig und die Zusammenarbeit mit anderen Gremien wie den wissenschaftlichen Beiräten der Ministerien kompliziert.“

2020 war der Band aufgrund der Coronapandemie erstmals nicht persönlich übergeben worden.
Nur: Das Jahresgutachten hatte Erhard ins SVR-Gesetz geschrieben, wo es sich bis heute findet. „Und das aus gutem Grund“, sagt der Ex-Vorsitzende Schmidt. Das Jahresgutachten löst mehr aus als die Druckerpressen. Die Bundesregierung muss Stellung nehmen, es gibt Anhörungen mit den Ministerien dazu. „All das mehrfach über das Jahr verteilt wäre organisatorisch schwer zu bewerkstelligen“, warnt Schmidt.
SVR-Generalsekretär Wolf Reuter schlägt daher „eine gute Mischung vor: ein Jahresgutachten mit nur ein paar thematischen Schwerpunkten und eine beschränkte Anzahl an weiteren Veröffentlichungen zu anderen Themen über das Jahr verteilt“.
Option 3: Weise in Vollzeit
Es ist nur ein Wort, doch einem früheren Vorsitzenden des Sachverständigenrats gefiel es gar nicht. „Auch“ sei ein redundanter Begriff. In den Sitzungen des SVR vor Veröffentlichung des Jahresgutachtens musste das Wort diverse Male gestrichen werden, erinnern sich Teilnehmer.
Was wie eine Belanglosigkeit klingt, ist Ausdruck dessen, wie viel Arbeit die Gutachten und generell die Mitgliedschaft in der führenden Ökonomenriege bedeuten. Zur ökonomischen Analyse hinzu kommen Gespräche mit der Fachöffentlichkeit und der Politik, mediale Arbeit und interne Abstimmungen.
Die Ratsmitglieder erhalten dafür jährlich 33.000 Euro, der Vorsitzende bekommt 37.000 Euro. Wirtschaftsweiser zu sein, ist ein Nebenamt. Alle Ratsmitglieder haben zeitgleich Professuren inne. Durch die Reihe, so berichten es aktuelle wie ehemalige Weise, gehe die Arbeit für den Rat weit über ein Nebenamt hinaus. Gleichzeitig bindet sich ein Mitglied für mindestens fünf Jahre.
„Es ergibt Sinn, darüber nachzudenken, die Ratsmitgliedschaft hauptamtlich und für einen kürzeren Zeitraum zu gestalten“, meint Generalsekretär Reuter. Das würde mehrere über das Jahr verteilte Veröffentlichungen und eine intensivere Zusammenarbeit mit dem Stab ermöglichen.
Die jungen Ökonominnen und Ökonomen forschen in Wiesbaden häufig unbemerkt von der Öffentlichkeit. Die Forschungsarbeiten des SVR-Stabs gelten als exzellent, so äußern es Wissenschaftler verschiedenster Denkschulen. Schnitzer hält hingegen eine Ratsmitgliedschaft als Vollzeitjob mit Blick auf die Unabhängigkeit nicht für zielführend. Anders sei das, wenn der SVR wie der US-Council aufgebaut würde.
Option 4: Umzug in die Hauptstadt
Der simpelste Schritt für mehr Einfluss des SVR passt vermutlich in ein paar Dutzend Umzugskartons. Erhard hatte das Gremium damals in Wiesbaden beim Statistischen Bundesamt angesiedelt, um die Distanz zur Bonner Bundesregierung deutlich zu machen – und es ist damit heute umso weiter weg vom politischen Tagesgeschehen.

Beim Statistischen Bundesamt ist auch der Sachverständigenrat angesiedelt.
So überrascht es nicht, dass sich die Weisen inzwischen auch in Berlin treffen. „Ein Umzug in die Hauptstadt würde viele Wege sparen, den Rat als Arbeitgeber noch attraktiver machen – und brächte den Stab näher an die aktuellen politischen Diskussionen“, findet Reuter. Dass diese Maßnahme die Ratsmitglieder zu regierungshörigen Lakaien mache, glaubt wohl niemand mehr.
Klar ist: Es gibt Reformbedarf beim Sachverständigenrat, da sind sich Interne und Außenstehende einig. Gleichzeitig zeigt der Diskurs die Bedeutsamkeit seiner Existenz: Wenn der Rat so wichtig nicht wäre, würde nicht so viel über ihn gesprochen. Wie sagte schon einst die US-Baseball-Legende Yogi Berra über ein Restaurant in St. Louis, für das er einmal gearbeitet hatte: „Da geht schon lange keiner mehr hin, dort ist es zu voll.“
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Vielleicht wäre es eine gute Idee den SVR grundsätzlich nur aus parteiunabhängigen Spitzen-Ökonomen zuzulassen. Dto die Berater der Regierung.
Bsp. Marcel Fratzscher/DIW/Uni Berlin .....sicherlich ein sehr intelligenter Mann und gut aufgehoben an der Uni Berlin aber die deutschen Spitzenökonomen sind ehr an VWL-Uni's wie Mannheim, Köln, Bonn oder Heidelberg zu finden. Das DIW ist zu gewerkschaftsnah.
Oder Michael Hüther/ehemaliger Prof einer deutschen Business-School und Adjunct Prof in Standford.......ebenso zweifelsohne ein sehr intelligenter Mann aber weder an einer Spitzen-VWL-Uni studiert noch dort als Hauptverantwortlicher gelehrt.
Das IW ist zu Arbeitgeber lastig aufgestellt.
Auch in Deutschland gibt es Top Ökonomen wie den leider viel zu früh verstorbenen Thomas Laubach. Man muß solche Leute nur an den genannten Uni's aufspüren und dann in die ökonomisch-wissenschaftliche Verantwortung bringen. Das sollte aber nicht politisch motiviert sein, sondern wissenschaftlich orientiert sein. Ein solcher Berater muß auch kontroverse Meinungen vertreten dürfen auch wenn es nicht die herrschende Meinung des IW, Ifo oder Gewerkschaft trifft.