Pandemie Ampel will Deutschland winterfest machen – Brinkhaus kritisiert „Realitätsverweigerung“ bei Coronakurs

Die Grünen-Politikerin weist Unions-Kritik hinsichtlich des Coronakurses zurück.
Berlin Die Bundestagsdebatte zur Coronalage war am Donnerstag gerade beendet, als die Narren und Jecken in den Karnevalshochburgen um 11.11 Uhr die Session einläuteten. Ging es im Parlament gerade noch um überfüllte Intensivstationen und Leben und Tod, sah man in Köln und anderen Städten Tausende Menschen unbeschwert feiern – wenn auch nach 2G-Regeln.
Die Bilder illustrieren die Gratwanderung, vor der die Politik in diesem Coronaherbst steht: Die vierte Welle bricht mit ungeheurer Wucht über Deutschland herein. Aber viele Menschen – zuvorderst die Geimpften und Genesenen – wollen auch ihre Freiheiten zurück und sich nicht mehr einschränken lassen. Dabei wächst die Dramatik der Situation unaufhörlich.
Mehr als 50.000 Menschen haben sich nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) zuletzt an einem Tag neu mit dem Coronavirus infiziert, so viele wie nie zuvor. Die Sieben-Tage-Inzidenz, die die Zahl der Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner binnen einer Woche angibt, ist auf 249 gestiegen. Der wahrscheinliche nächste Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warnte: „Das Virus ist noch unter uns und bedroht die Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger.“
Der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hörte von der Regierungsbank mit verschränkten Armen zu. Es gehe jetzt darum, das Land „winterfest“ zu machen, betonte der amtierende Vizekanzler, der sich zuletzt Vorwürfe anhören musste, in der Coronakrise abgetaucht zu sein.
Debatte über Impfpflicht
Scholz verteidigte den Plan der Ampelfraktionen, die epidemische Lage von nationaler Tragweite am 25. November auslaufen zu lassen, den Ländern aber einen neuen Instrumentenkasten zur Verfügung zu stellen. Mit Booster-Impfungen für alle, einer 3G-Regelung am Arbeitsplatz, täglichen Tests für Personal und Besucher in Pflegeheimen oder der Rückkehr der kostenlosen Bürgertests soll die vierte Welle gebrochen werden.
Auch die Debatte über eine Impfpflicht für Personal in Pflegeheimen und anderen sensiblen Einrichtungen müsse geführt werden, sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Aber selbst wenn man sie beschließe, dauere es Wochen, bis sie wirke. Allerdings empfiehlt inzwischen auch der Deutsche Ethikrat „eine ernsthafte und rasche Prüfung einer berufsbezogenen Impfpflicht in Bereichen, in denen besonders vulnerable Menschen versorgt werden“.
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) warf SPD, Grünen und FDP vor, mit dem Ende der epidemischen Lage den Ländern Flexibilität und Handlungsspielräume zu nehmen.
Dabei war es CDU-Minister Spahn, der diesen Schritt einst selbst vorgeschlagen hatte, wie Göring-Eckardt anmerkte. Dass die schwarz-rote Koalition die kostenlosen Bürgertests abgeschafft habe, sei ein „wirklich krasses Versäumnis“ gewesen, schimpfte die Grüne in Richtung Brinkhaus – traf damit zugleich aber auch ihren wahrscheinlichen Koalitionspartner Scholz. Es muss sich erst noch finden, das neue Machtgefüge im Bundestag.
Verhältnismäßigkeit wahren
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann, erinnerte Kritiker aus der Union daran, dass der bayerische Verfassungsgerichtshof gerade erst nächtliche Ausgangssperren nachträglich für unverhältnismäßig erklärt hatte. Die Ampel streiche nur Maßnahmen aus dem Infektionsschutzgesetz, die die Freiheit der Bürger zu sehr einschränkten, gebe den Ländern aber andere Möglichkeiten an die Hand.
Dazu gehöre auch die 2G-Regel – also der Zugang zu Restaurants, Kinos oder Veranstaltungen nur für Geimpfte oder Genesene. Viele Bundesländer hätten sich bereits in diese Richtung aufgemacht, sagte Scholz, und man werde dafür sorgen, dass die Option allen offenstehe. Nach bundesweiter Koordination klingt das nicht.
Scholz: „Müssen viele Maßnahmen ergreifen, damit wir durch diesen Winter kommen“
Deshalb soll es jetzt am Donnerstag kommender Woche doch die Bund-Länder-Konferenz geben, die die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder schon lange einfordern. „Gut, dass nun endlich von allen Seiten Bereitschaft für diese dringend notwendige Abstimmung da ist“, twitterte Hendrik Wüst, CDU-Regierungschef in Nordrhein-Westfalen, das derzeit den Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz innehat.
CSU-Chef Söder meldete sich am Donnerstag nach Beratungen über die dramatische Situation in den bayerischen Krankenhäusern aus München zu Wort. Bayern hat bereits den Katastrophenfall ausgerufen, weil die Intensivbetten knapp werden.
Angesichts der kritischen Lage im eigenen Bundesland versuchte sich Söder erneut als Vorkämpfer in der Pandemiebekämpfung. Auffrischungsimpfungen sollten nicht erst nach sechs, sondern nach fünf Monaten verabreicht werden, forderte er. Man sehe in Israel, „dass Booster Entlastung gebracht haben“, sagte der Regierungschef. Die Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag solle zudem eine partielle Impfpflicht etwa für Beschäftigte des Gesundheitswesens beschließen.
Die Ampelfraktionen hatten bereits angekündigt, dass Auffrischungsimpfungen allen Bürgern offenstehen sollen, wobei die Priorität auf den Risikogruppen beispielsweise in den Seniorenheimen liege. Tatsächlich zieht das Impftempo wieder an. Wie das RKI mitteilte, ließen sich am Mittwoch fast 370.000 Menschen eine Spritze verabreichen, darunter 246.000 Auffrischungsimpfungen.
Vollständig geimpft sind 56 Millionen Bürger oder 67,3 Prozent der Bevölkerung, wobei das RKI wegen einer statistischen Untererfassung von etwas höheren Werten ausgeht. Politiker von SPD, FDP und Grünen wollen an diesem Freitag mit Fachleuten darüber beraten, wie sich noch mehr Schwung in die Impfkampagne bringen lässt.
Länder folgen Sachsen bei 2G
Viele Länder wollen nicht mehr abwarten und folgen dem Beispiel Sachsens, wo seit Montag schon im öffentlichen Leben die 2G-Regel gilt. Sie gehe davon aus, dass „wir überall im Bereich der Gastronomie, von Veranstaltungen und Zusammentreffen größerer Personengruppen absehbar auf 2G setzen – und das voraussichtlich unabhängig von Schwellenwerten und Warnstufen“, sagte Niedersachsens Gesundheitsministerin Daniela Behrens (SPD) der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.
In Mecklenburg-Vorpommern liegt die Inzidenz zwar schon höher als in Niedersachsen, im bundesweiten Vergleich mit 163 aber immer noch im Mittelfeld. In Schwerin tritt am Freitag noch das alte Kabinett zusammen, um über das weitere Vorgehen in der Coronakrise zu beraten. Dabei zeichnet sich ab, dass Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), die angesichts der vergleichsweise niedrigen Inzidenzen in ihrem Bundesland einen noch eher lockeren Kurs gefahren hat, künftig stärker auf 2G setzen wird.
Auch Brandenburg führt ab diesem Montag in Gaststätten, Hotels, Kinos und Theatern die 2G-Regel mit Zugang nur für Geimpfte und Genesene ein, wie das Kabinett beschloss. Allerdings müssten Zugangsbeschränkungen beispielsweise in Restaurants wirksam kontrolliert werden, forderte Vizekanzler Scholz im Bundestag. Daran hapere es zuweilen noch.
Mehr: 3G am Arbeitsplatz – Warum der Datenschutz zurückstehen muss. Ein Kommentar.
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