Pandemie Mehr Geimpfte als gemeldet: Was das für die Corona-Politik bedeutet

Ein Großteil der Corona-Maßnahmen ist bereits aufgehoben.
Berlin Weil die Impfquote in Deutschland offenbar höher liegt als angenommen, gibt es zunehmend Forderungen nach einem Ausstiegsplan aus allen Coronamaßnahmen. Laut einem Bericht des Robert Koch-Instituts (RKI) sei anzunehmen, dass unter den Erwachsenen bereits bis zu 84 Prozent einmal und bis zu 80 Prozent vollständig geimpft sind. Das entspräche einer jeweils um fünf Prozentpunkte höheren Impfquote im Vergleich zu den offiziellen Meldungen der Impfstellen.
„Daraus ergibt sich verstärkt die Notwendigkeit eines politischen Fahrplans, wann mit dem Ende aller Beschränkungen zu rechnen ist“, sagte Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung (KBV), dem Handelsblatt. „Kurzum: Wann genau die epidemische Lage beendet werden kann.“
Ein Großteil der Coronamaßnahmen ist bereits aufgehoben. Die nun erreichten Impfquoten machten es allerdings möglich, im Freien auf Vorgaben etwa zum Tragen medizinischer Masken zu verzichten, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). In Innenräumen blieben Zugangsregeln für Geimpfte, Genesene und Getestete (3G) mit der Option für 2G nur für Geimpfte und Genesene wichtig – ebenso Hygieneregeln rund um Abstandhalten und Maskentragen besonders in Bus und Bahn.
Einen Plan allerdings, aus allen Maßnahmen auszusteigen, gibt es bislang nicht. Stimmt die Annahme des RKI, dass deutlich mehr Menschen geimpft sind, als bislang angenommen, wäre die Impfquote in Deutschland nun beinahe so hoch wie in Ländern Großbritannien und Dänemark, als diese alle Coronaregeln aufhoben. Das RKI empfiehlt diesen Schritt hingegen erst, wenn 85 Prozent der Zwölf- bis 59-Jährigen sowie 90 Prozent der Personen ab dem Alter von 60 Jahren vollständig geimpft sind.
Das Problem: Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wie viele in Deutschland tatsächlich gegen das Virus geschützt sind, vor allem, wenn Genesene dazugezählt werden. „Leider haben wir in Deutschland eine schlechte Datenlage, wie viele ungeimpfte Genesene es eigentlich gibt“, sagte Ulf Dittmer, Virologe an der Universitätsklinik Essen, dem Handelsblatt.
Er geht allerdings davon aus, dass die Zahl der Geimpften und ungeimpften Genesenen „sehr nah“ an der Herdenimmunität liegt, die er bei der Delta-Variante bei einer Quote von 85 Prozent ausmacht. Anders sei nicht erklärbar, dass die Fallzahlen im September zurückgegangen sind und nun stagnieren.
Ende aller Maßnahmen noch nicht in Sicht
„Das bedeutet dann aber auch, dass vermutlich noch mehr als zehn Millionen Deutsche weder geimpft noch genesen sind“, sagte Dittmer. Diese Menschen würden sich auch weiterhin infizieren, was nach wie vor zu einer Überlastung der Krankenhäuser führen könnte. „Daher sollten jetzt nicht alle Maßnahmen sofort abgeschafft werden“, sagte er. Erst im Frühjahr 2022 könne man davon ausgehen, dass die Herdenimmunität erreicht sei – und damit alle Maßnahmen fallen könnten.
Der Leipziger Epidemiologe Markus Scholz empfiehlt gar, noch bis April zu warten. „Aufgrund des Ausfalls der letzten Grippewelle ist eine stärkere für die anstehende Saison zu erwarten“, sagte er. Mit der nun herrschenden Impfquote sei die Gefahr einer starken Welle über den Herbst und Winter allerdings „deutlich reduziert“.
Die SPD-Gesundheitsexpertin Bärbel Bas verwies bereits auf den November, wenn der Bundestag über das Fortbestehen der epidemischen Lage entscheiden muss. „Dann werden wir den weiteren Fortgang bei den Impfungen sehen und auch die Entwicklung der Infektionszahlen im Herbst besser beurteilen können als heute“, sagte sie dem Handelsblatt. „Solange bin ich dafür, den Ländern die Möglichkeit zu Schutzmaßnahmen noch zu lassen.“

Ungeimpfte ohne gültigen Test müssen draußen bleiben.
Von der Opposition kommt hingegen scharfe Kritik an der Datenerhebung zur Impfkampagne. „Wie viele Menschen in Deutschland genau geimpft und genesen sind, kann offenbar auf Grundlage der vorliegenden Informationen niemand mit Sicherheit sagen“, kritisierte der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen gegenüber dem Handelsblatt.
„Bundesgesundheitsminister Spahn muss nun Klarheit schaffen – und das System der Erfassung endlich so aufstellen, dass es zuverlässige Zahlen liefert.“ Schließlich seien diese Zahlen die Voraussetzung für Entscheidungen darüber, ob und wie viel Schutzmaßnahmen noch weiter erforderlich seien.
Der FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann spricht gar von einer „chaotische Datenlage der Durchimpfungsrate in Deutschland“. Die Aussagen zu einer höheren Impfquote würden von einem „scheidenden Minister“ stammen. „Eine zeitnahe Unterrichtung an den Ausschuss für Gesundheit wäre jetzt nötig“, forderte Ullmann. Sonst könnten sichere politische Handlungsempfehlungen nur schwer getroffen werden.
Ullmann führt die Unklarheiten vor allem auf die „fehlende Digitalisierung“ im öffentlichen Gesundheitsdienst und im Gesundheitswesen zurück, die nun „schmerzlich sichtbar“ würde. Eine Regierung müsse dies dringend angehen.
Unklare Datenlage
Das RKI erläutert in seinem Bericht, es liege nahe, „dass die im Digitalen Impfquoten-Monitoring berichtete Impfquote als Mindest-Impfquote zu verstehen ist und eine Unterschätzung von bis zu fünf Prozentpunkten für den Anteil mindestens einmal Geimpfter beziehungsweise vollständig Geimpfter angenommen werden kann.“ Die Schätzung beruht auf Bürgerbefragungen und Meldedaten. Zur Anschauung: Fünf Prozentpunkte bei Erwachsenen entsprechen grob überschlagen 3,5 Millionen Menschen.
Hintergrund ist, dass in Befragungen des RKI deutlich mehr Menschen angeben, bereits geimpft zu sein, als in der Meldestatistik vermerkt sind. Nach deren Meldungen von Impfstellen wie Praxen, Betriebsärzten und Impfzentren haben bisher knapp 80 Prozent der Menschen ab 18 Jahren eine erste Spritze bekommen, gut 75 Prozent bereits die zweite.
Bezogen auf die gesamte Bevölkerung sind nach Daten von Donnerstag nun 65 Prozent oder 54 Millionen Menschen vollständig mit der dafür meist nötigen zweiten Spritze geimpft. Mindestens eine erste Impfung haben 56,8 Millionen Menschen oder 68,4 Prozent aller Einwohner.
Das RKI nennt verschiedene Gründe dafür, dass anhand der Befragungen die Impfquote höher zu sein scheint – unter anderem, dass in den Befragungen wenig impfbereite Menschen unterrepräsentiert sind. Zudem gibt das RKI an, dass Menschen mit schlechten Deutschkenntnissen nicht an der Befragung teilnehmen können.
„Es besteht die Vermutung, dass Sprachbarrieren auch zu einer geringeren Inanspruchnahme der Covid-19-Impfung führen.“ Zudem würden bestimmte Impfungen in der Statistik gar nicht erfasst. Bereits im August hatte das RKI von „gewisser Unsicherheit“ bei der Interpretation von Impfquoten-Daten berichtet.
Es gibt teils wohl auch Meldeverzögerungen. So hätten bisher nur etwa die Hälfte der im digitalen System registrierten Betriebsärzte Impfungen über die Webanwendung gemeldet. Dies könnte „ein Hinweis auf eine Untererfassung der Impfquoten“ sein.
Zudem könne davon ausgegangen werden, dass im Praxisalltag nicht alle Impfungen über entsprechende Meldeportale übermittelt würden. Unter der Annahme, dass alle bis 27. September ausgelieferten Dosen bis zum 5. Oktober verimpft wurden, erhöhte sich etwa der Anteil mindestens einmal geimpfter Menschen bei den Erwachsenen um 3,2 Punkte.
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