Pandemiebekämpfung Streit über Infektionsschutzgesetz und Testpflicht – Kretschmann kritisiert „Einheitswahn“

Kretschmann kritistert den „Einheitswahn“.
Berlin Die Pläne des Bundes für eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes und verpflichtende Testangebote in Unternehmen stoßen auf Kritik der Opposition, einzelner Ministerpräsidenten und der Wirtschaft.
Die geplanten Ausgangssperren seien „ein dermaßen tiefer Eingriff in die Bewegungsfreiheit“, dass sie nicht einfach „en passant“ beschlossen werden könnten, warnte der erste parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, in einem Brief an das Gesundheits- und das Innenministerium. Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) sagte, „diesen Einheitswahn“ teile er überhaupt nicht. Wichtig sei, dass die Länder bei zentralen Dingen zusammenblieben. Kleine Abweichungen spielten pandemisch keine Rolle.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) und die Regierungschefs von Berlin und Bayern, Michael Müller (SPD) und Markus Söder (CSU), hatten sich am Freitag auf eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes geeinigt.
Nach dem Gesetzentwurf, der dem Handelsblatt vorliegt, soll es in Landkreisen, in denen die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz auf Werte über 100 steigt, automatisch strengere Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren von 21 Uhr bis fünf Uhr geben. Geschäfte dürfen mit wenigen Ausnahmen wie dem Lebensmitteleinzelhandel, Drogerien oder Apotheken nicht öffnen.
In der Sitzung des geschäftsführenden Vorstands der Unionsfraktion verteidigte Kanzlerin Angela Merkel die Pläne und kritisierte nach Teilnehmerangaben, dass Bayern stärker von der vereinbarten Notbremse abgewichen sei als Nordrhein-Westfalen. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) betonte, die Union sei sich einig, jetzt rasch einen Notfallmechanismus zu installieren, „damit wir in dieser durchaus dramatischen Pandemielage auch schnell entscheidungsfähig sind“.
Scholz erwartet trotz kritischer Stimmen aus seiner Partei eine Unterstützung der SPD-Ministerpräsidenten für das geplante Corona-Bundesgesetz. „Sie stehen alle hinter diesem Vorgehen und werden es auch unterstützen“, sagt der Vizekanzler im ZDF. Es werde eine ordentliche Beratung geben. „Aber der Weg ist klar und wird von allen getragen.“ Er habe noch am Sonntagabend mit den SPD-Länderchefs gesprochen.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hatte zuvor bereits gesagt, sein Bundesland könne mit den Plänen grundsätzlich „gut leben“. Die eigenen Regelungen seien „eher strenger und werden das auch bleiben“. Im Hinblick auf zahlreiche Details und auch inhaltlich müsse der Entwurf des Innenministeriums zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes allerdings überarbeitet werden.
Der frühere Vorsitzende des Deutschen Richterbunds, Jens Gnisa, zeigte sich „fassungslos“ angesichts der Pläne: „Der Bund schießt deutlich über alle Verhältnismäßigkeitsgrenzen hinaus“, schrieb der Direktor des Bielefelder Amtsgerichts auf Facebook. Es gehe bei den Vorschlägen nun nicht mehr um einen Brücken-Lockdown von zwei oder drei Wochen, sondern um einen „nicht mehr einzufangenden Dauerlockdown“.
Heil kündigt Testpflicht an
FDP-Chef Christian Lindner schrieb in einem Brief an Kanzlerin Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), in der vorliegenden Version sei der Gesetzentwurf für seine Fraktion „nicht zustimmungsfähig“. In dem Brief, über den die Funke-Mediengruppe berichtete, kritisiert Lindner etwa die Ausgangsbeschränkungen als unverhältnismäßig und aus epidemiologischer Sicht unbegründet.
Streit mit der Wirtschaft gibt es vor allem über Corona-Tests in Unternehmen. Die SPD konnte sich offenbar mit ihrer Forderung durchsetzen, Arbeitgeber zu einem Testangebot zu verpflichten. „Alle müssen jetzt ihren Beitrag im Kampf gegen Corona leisten, auch die Arbeitswelt“, sagte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) der „Bild am Sonntag“. Eine Verschärfung der Arbeitsschutzverordnung solle das Bundeskabinett schon am Dienstag gemeinsam mit der Reform des Infektionsschutzgesetzes verabschieden.
Wie das Handelsblatt aus Regierungskreisen erfuhr, soll ein Testangebot pro Woche verpflichtend sein. Für Beschäftigte mit regelmäßigem Kundenkontakt gilt ein abgestuftes Verfahren. Eine Bescheinigungspflicht, wie sie ursprünglich angedacht war, soll es wohl nicht in jedem Fall geben, weil damit ein Einsatz von Selbsttests ausscheiden würde.
Aus der Wirtschaft kam heftige Kritik an den Plänen: Der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Stefan Wolf, sprach von einer „Verzweiflungstat, um von eigenen Versäumnissen abzulenken“. Wenn die Regierung eine Testangebotspflicht wolle, solle sie erst einmal darlegen, wie es im öffentlichen Dienst aussehe, sagte Wolf.
In Befragungen im Auftrag der Regierung hatten 61 Prozent der Beschäftigten angegeben, dass ihr Arbeitgeber schon ein Testangebot unterbreite. Weitere rund zehn Prozent erklärten, ein Testangebot sei angekündigt.
Vizekanzler Scholz sagte der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, dies sei „deutlich zu wenig, unsere Vereinbarung zielte auf eine Testquote von 90 Prozent“. Diese Marke hatte Kanzlerin Merkel im Bundestag genannt. Die freiwillige Selbstverpflichtung der Spitzenverbände BDA, BDI, DIHK und ZDH vom 9. März sah dagegen keine Zielmarke vor.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) warf Scholz vor, mit der Pandemie Wahlkampf zu betreiben. Sie hofft weiterhin, dass das freiwillige Engagement der Wirtschaft anerkannt wird.
Mehr: Braucht es eine gesetzliche Corona-Testpflicht für Unternehmen? Zwei Meinungen zum Thema.
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