Politikerin des Jahres Ursula von der Leyen kann sich in Brüssel als Macherin beweisen

Wäre das Leben der Ursula von der Leyen eine literarische Fiktion, würde jeder gute Lektor das Manuskript wohl dankend ablehnen: Zu konstruiert erschiene die Symbolik, dass die in Brüssel geborene Tochter eines deutschen Diplomaten und späteren Ministerpräsidenten als Präsidentin der Europäischen Kommission in die Hauptstadt der EU zurückkehrt.
Und zu unwahrscheinlich erschiene es, dass eine siebenfache Mutter – als Familien-, dann als Arbeits- und schließlich Verteidigungsministerin – eine der prägenden Gestalten erst der deutschen und nun der europäischen Politik wurde.
Und doch ist genau das die unwahrscheinliche, aber tatsächliche Karriere der Ursula von der Leyen. Ein eindrucksvoller Lebensweg, vor dem auch ich als Politikerin einer anderen Generation und Partei Respekt habe.
Die Union und Ursula von der Leyen, die FDP und ich, wir vertraten – von Internetsperren bis zu Rentenreformen – oft unterschiedliche Ansichten. In ihrer Zeit als Bundesverteidigungsministerin haben wir sie häufig kritisiert, unter anderem für ihren kollektiven Vorwurf an die Soldaten der Bundeswehr, diese hätten „ein Haltungsproblem“, und ihren Umgang mit den zahlreichen Beschaffungsproblemen und -skandalen ihres Ministeriums. Letzteres sogar mit der Konsequenz, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.
Doch gerade in der politischen Auseinandersetzung hat sich von der Leyen meinen Respekt erarbeitet. Ihre Freunde wie auch Kritiker eint dabei die Anerkennung ihrer Disziplin, Ausdauer und Nervenstärke.

Linda Teuteberg ist seit Mai die General-sekretärin der FDP. Der Liberalismus faszinierte die 38-Jährige schon als Schülerin. Als Politikerin scheut die Juristin kaum eine Auseinandersetzung, ob einst als Landtagsabgeordnete in Brandenburg mit Ministerpräsident Matthias Platzeck („Süß ist für mich keine Kategorie!“) oder jetzt als FDP-Generälin mit dem neuen Co-Chef der SPD Norbert Walter-Borjans („Die SPD versinkt im Chaos.“).
Das gilt nicht nur für das Arbeitspensum und den Fleiß, den sie bei all ihren Aufgaben an den Tag legt, sondern vor allem dafür, in wichtigen Fragen den Konflikt nicht zu scheuen. Denn das bedeutet vor allem auch, das Risiko einer Niederlage in Kauf zu nehmen. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einem politischen Betrieb, in dem Scheitern immer auch als Makel gilt.
Zu ihren bemerkenswerten Vorstößen gehört zum Beispiel, wie sie 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz die von Joachim Gauck formulierte Aufforderung, Deutschland müsse in der Welt mehr Verantwortung übernehmen, auch politisch konkreter fasste. „Gleichgültigkeit ist nie eine Option“, sagte sie damals. Eine Aussage, die auch das Motto der Politikerin Ursula von der Leyen sein könnte.
Fulminanter Absprung aus Berlin
Es folgten oft zermürbende Kontroversen um die Stärkung, Finanzierung und Ausstattung der Bundeswehr. Doch sie gab nicht auf oder klein bei. Es gehört zur Würdigung ihrer Person dazu, festzustellen, dass sie gerade in ihrem Amt als Verteidigungsministerin noch zuletzt weit davon entfernt war, die eigenen Ziele und Ansprüche zu erfüllen: Statt mehr Verantwortung in der Welt wahrzunehmen, ging es eher um die Aufarbeitung von Problemen, Krisen und Skandalen – und um das alltägliche Gegeneinander und Klein-Klein einer längst nicht mehr Großen Koalition. Aber auch in diesem schwierigen Amt war sie eine Ausnahmeerscheinung von Dauer.
Mit der Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin ist Ursula von der Leyen jetzt auf bemerkenswerte, ja geradezu fulminante Weise der Absprung aus dem Berliner Regierungsviertel gelungen. Statt an Bord eines leckgeschlagenen Großtankers in den Sonnenuntergang der Kanzlerschaft von Angela Merkel zu fahren, kann sie jetzt in Europa selbst die Segel setzen und den Kurs bestimmen.
Ihre Aufgabe ist gewaltig, vielleicht sogar historisch. Denn wir Europäer – und der Westen insgesamt – stehen heute wieder in einem Systemwettbewerb. Autokratische Systeme wie Russland und China fordern die liberalen Demokratien mit dem Gegenentwurf einer gelenkten Gesellschaft und Wirtschaft heraus.
Bislang hat die EU darauf keine überzeugenden Antworten gefunden, sondern ist mit einem Bündel ungelöster Krisen und Probleme konfrontiert: Brexit, Migration, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig schwindet der Zusammenhalt in der EU, erhalten Populisten und Autokraten selbst in Mitglieds- und Gründungsstaaten regen Zulauf.
Die Aufgabe, vor der von der Leyen steht, könnte also kaum größer sein. Und ob es ihr gelingen wird, dem europäischen Projekt neuen Schwung zu geben, steht noch in den Sternen. In ihrer ersten Rede vor dem Europäischen Parlament hat sie erkennen lassen, dass sie sich der Größe dieser Aufgabe bewusst ist. Zugleich hat sie die Notwendigkeit erkannt, gerade deshalb Schwerpunkte und Prioritäten zu setzen. Bei der Migration, beim Klimaschutz, bei der Wettbewerbsfähigkeit.
Die notwendigen Erfolge in diesen Bereichen zu erzielen wird keine Kleinigkeit. Statt mit einem sperrigen Koalitionspartner und einer konfliktscheuen Kanzlerin hat sie es nun mit 27 Mitgliedstaaten, der eigenen Dynamik des Europäischen Parlaments und einer nervösen Öffentlichkeit zu tun. Schon die erste Tat – die Bestätigung der Mitglieder ihrer Kommission durch das Parlament – hat gezeigt, wie schwierig ihr neuer Job ist.
Neben der Komplexität und Verflochtenheit der europäischen Institutionen steht Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin auch vor der nach wie vor ungelösten Aufgabe, dem europäischen Projekt einen neuen Sinn, eine zeitgemäße Erzählung zu verleihen.
Und vielleicht ist dies auch für von der Leyen eine unlösbare Aufgabe. Als große Erzählerin ist sie, trotz ihres rhetorischen Talents, bisher nur selten aufgefallen. Ihre ersten Reden auf der neuen Bühne gaben noch keinen Hinweis darauf, dass sie das europäische Projekt neu erzählen möchte.
Man sollte sie nie unterschätzen
So bestehen viele Zielkonflikte, die es aufzulösen und zu bewältigen gilt. Fortschritt und Zusammenhalt in der Europäischen Union müssen gleichermaßen befördert werden. Beispiel Klimaschutz: Es gilt dabei, den Klimanationalismus, zu dem gerade die Debatte in unserem Land neigt, zu überwinden und wirksamen Klimaschutz mit wettbewerbsfähiger Industrie und freiheitlicher Lebensweise zu verbinden.
Denn sowohl den wirtschaftlichen als auch den gesellschaftlichen Systemwettbewerb werden wir Europäer nur für unsere westlichen Werte entscheiden, wenn wir uns sowohl durch unsere Lebensweise als auch durch unser wirtschaftliches Gewicht als Vorbild und Verhandlungspartner beweisen.
Noch steht von der Leyen am Anfang ihrer Amtszeit. Welchen Weg sie einschlagen wird, ist noch nicht abzusehen. Und mehr noch als für andere politische Spitzenrollen gilt für das Amt der Kommissionspräsidentin, dass man sich auf diese Aufgabe nicht wirklich vorbereiten kann, sondern in diese Rolle hineinwachsen – und an ihr wachsen – muss.
Es gibt durchaus Grund zur Zuversicht, dass Ursula von der Leyen eine herausragende Präsidentin werden könnte. Wenn sie in ihrem Leben eines unter Beweis gestellt hat, dann, dass man sie nie unterschätzen sollte. Ihr unbedingter Wille zum Erfolg und ihre Fähigkeit, gezielt Öffentlichkeit für ihre Anliegen herzustellen, bieten eine große Chance. Als Demokratin und Europäerin wünsche ich ihr darum aufrichtig, dass auch dieses Kapitel ihrer Geschichte sich später fast zu gut lesen wird, als dass man es für wahr halten könnte.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.