Recht und Steuern Digitaler Wandel der Justiz: Immer mehr Richter führen Online-Verhandlungen durch

Eigentlich ermöglicht die Zivilprozessordnung schon seit 20 Jahren, Verhandlungen „im Wege der Bild- und Tonübertragung“ abzuhalten. Die Möglichkeit einer Videoverhandlung fristete aber bislang ein Schattendasein.
Berlin Die Corona-Pandemie hat zu einem ersten Digitalisierungsschub an deutschen Zivilgerichten geführt: Die Zahl der Richter, die in geeigneten Fällen eine Online-Verhandlung durchführten, hat sich im Laufe des Jahres 2020 verfünffacht. Das geht aus einer aktuellen Auswertung des Deutschen Richterbundes (DRB) hervor, die dem Handelsblatt vorliegt.
Demnach schalteten vor der Coronakrise lediglich acht Prozent der Befragten eine Webcam für ihre Verfahren ein. Diese Quote stieg im ersten Pandemiejahr auf 42 Prozent. Und die Modernisierung dürfte sich fortsetzen: Zwei Drittel aller befragten Zivilrichter gehen davon aus, auch in den kommenden zwölf Monaten eine Videoverhandlung durchzuführen.
„Der Rückgriff auf Online-Verfahren hilft, einen möglichen Verfahrensrückstau in der Justiz infolge abgesagter Präsenztermine in Grenzen zu halten“, erklärt DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn. Die Akzeptanz des digitalen Wandels sei „in Gerichten und Staatsanwaltschaften hoch“.
Allerdings werden auch deutliche Grenzen gezogen: So lehnen 97 Prozent der befragten Richter klar ab, Videoverhandlungen als gesetzlichen Regelfall im Zivilprozess vorzusehen.
Ungenutzte Möglichkeit seit 2001
Eigentlich ermöglicht die Zivilprozessordnung schon seit 20 Jahren, Verhandlungen „im Wege der Bild- und Tonübertragung“ abzuhalten. Das sollte Reisezeit und -kosten für die Prozesse reduzieren. „Die Möglichkeit einer Videoverhandlung fristete aber bislang ein Schattendasein“, erklärt Hans-Patrick Schroeder von der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer, der gerade einen umfassenden Überblick zur Digitalisierung im Zivilprozessrecht verfasst hat. Erst durch die Pandemie und die damit verbundenen Kontaktbeschränkungen sei die Option als Alternative zur Präsenzverhandlung genutzt worden.
Für die aktuelle Auswertung hat der Richterbund rund 400 Zivilrichter zum Einsatz von Videotechnik in der Justiz befragt. Hintergrund ist eine Forschungsarbeit an der Bucerius Law School Hamburg. Wie viele Zivilrichter es in Deutschland insgesamt gibt, lässt sich nicht genau beziffern. Die Statistiken des Bundesamtes für Justiz weisen nur Vollzeitstellen an ordentlichen Gerichten aus. Grob ließe sich nur sagen, dass sich etwa 9500 Stellen auf die Zivil-, aber auch die Familiengerichte verteilen.
Laut Befund des Richterbundes hält die Richterschaft nur einen kleineren Teil ihrer Fälle für gut geeignet, um sie online mit den Verfahrensbeteiligten zu verhandeln. Etwa die Hälfte der befragten Zivilrichter gibt an, weniger als 20 Prozent aller Fälle seien dafür gut geeignet. Weitere 30 Prozent der Richter beziffern die Quote tauglicher Fälle auf 20 bis 40 Prozent. Gut geeignet sind Online-Verhandlungen demnach vor allem, soweit es ausschließlich um die Erörterung von Rechtsfragen geht und keine Beweisaufnahmen erforderlich sind.
Nachholbedarf bei der Technik
Bei aller digitalen Bereitschaft der Richterschaft müssen die Bundesländer auch die erforderliche Technik in den Gerichten bereitstellen. Auch hier deutet die Auswertung auf einen Wandel hin: Hatte vor der Coronakrise nicht einmal jeder fünfte befragte Zivilrichter Zugriff auf Videotechnik in seinem Gericht, ist diese Quote bis zum Jahresende 2020 immerhin auf 46 Prozent gestiegen.
Insgesamt hat sich die technische Ausstattung der Gerichte nach Einschätzung der Justizpraktiker während der Pandemie – bei allen regionalen Unterschieden – spürbar verbessert. 69 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass die Coronakrise zu einem Digitalisierungsschub geführt hat.
Sven Rebehn vom Deutschen Richterbund sieht allerdings „noch immer erheblichen Nachholbedarf“ bei der technischen Ausstattung vieler Gerichte. „Insbesondere einige ostdeutsche Länder hängen deutlich hinter Hamburg, Bayern oder Niedersachsen zurück, die bei der Digitalisierung vorangehen“, erklärt der DRB-Bundesgeschäftsführer.
So verfüge Sachsen-Anhalt nur über drei Videokonferenzanlagen in der Justiz, zudem bremse ein veraltetes Landesdatennetz die Gerichte aus. „Es braucht aber bundesweit leistungsfähige WLAN-Netze, überall mobile Hardware für Richter und Staatsanwälte sowie flächendeckend die Möglichkeit für Video-Verhandlungen“, fordert Rebehn.
Auch Freshfields-Anwalt Schroeder, der etwa VW im Dieselskandal vertritt, kann von Fällen berichten, in denen Gerichte die Durchführung virtueller Verhandlungen mit Hinweis auf fehlende technische Gegebenheiten ablehnten. Auch sonst sieht er noch Beharrungskräfte: Anekdotische Erfahrungsberichte legten nahe, dass ein Teil der Richterschaft papierlos arbeite, ein anderer Teil aber die elektronische Akte auf Papier ausdrucke und mit einer „Schattenakte“ weiterarbeite.
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