Regierungsbildung Finanzbedarf der Krankenkassen steigt auf 28,5 Milliarden Euro – Die Finanzierung wird zum Problem für die Ampel

Verbände fordern deutlich höhere Löhne für Pflegekräfte.
Berlin Der Deutsche Pflegerat ging gleich in die Vollen. Für Fachkräfte müsse es 4000 Euro Einstiegsgehalt geben, forderte die Vorsitzende Christine Vogler am Mittwoch beim Deutschen Pflegetag. Nur so könne dem Personalmangel in der Branche begegnet werden.
Dabei hatte die Große Koalition gerade erst eine Art Tariftreuegesetz für die Pflege beschlossen, das die Personalkosten nach oben treiben wird. Und erst vor ein paar Tagen hat der Bund erstmalig eine Milliarde Euro zugeschossen, um Pflegekassen vor der Pleite zu bewahren.
Es ist nicht die einzige Baustelle des Sozialstaats, um die sich SPD, Grüne und FDP kümmern müssen, wenn sie die nächste Regierung bilden. Wie der Schätzerkreis am Mittwoch mitteilte, benötigen die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) im kommenden Jahr zusätzlich zu den bereits zugesagten 21,5 Milliarden Euro weitere sieben Milliarden Euro Zuschuss vom Bund. Dem Gremium gehört der GKV-Spitzenverband, das Bundesamt für Soziale Sicherung und das Bundesgesundheitsministerium an.
Insgesamt beläuft sich der Finanzbedarf der Krankenkassen damit auf 28,5 Milliarden Euro für das kommende Jahr. Die Mittel sind nötig, um den Zusatzbeitrag für Versicherte bei durchschnittlich 1,3 Prozent stabil zu halten. Höhere Beiträge hätte zur Folge, dass die Sozialabgaben die 40-Prozent-Marke überschreiten würden.
„Wir erwarten, dass die Bundesregierung rasch für einen entsprechenden Bundeszuschuss sorgt – und damit die Gefahr von flächendeckend steigenden Zusatzbeiträgen im nächsten Jahr abwendet“, sagte der Verwaltungsratsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Volker Hansen. „Der Bundesgesundheitsminister muss nun schnell die entsprechende Verordnung auf den Weg bringen.“ Minister Jens Spahn (CDU) wiederum stellte am Mittwoch in Aussicht, zügig eine Rechtsverordnung vorzulegen und sie mit dem Bundesfinanzministerium abzustimmen.

Das Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung wächst.
Die Rentenversicherung wird zunehmend zum Zuschussgeschäft
Auch die Rentenversicherung wird zunehmend zum Zuschussgeschäft, weil die Beiträge aus dem Umlageverfahren nicht mehr ausreichen, um die Alterung der Gesellschaft abzufedern und die von der Großen Koalition auf den Weg gebrachten Leistungsausweitungen zu bezahlen.
Der Steuerzuschuss für die Rentenversicherung hat im vergangenen Jahr erstmals die Marke von 100 Milliarden Euro überschritten und wird nach dem Finanzplan des Bundes bis 2024 voraussichtlich auf knapp 120 Milliarden Euro steigen.
Die künftige Bundesregierung wird den Bürgern also voraussichtlich Beitragserhöhungen auf breiter Front verkaufen müssen – oder einen noch größeren Anteil der Kosten des demografischen Wandels und des medizinischen Fortschritts auf die Steuerzahler abwälzen.
Umso überraschender ist es, dass die dramatische Lage der Sozialversicherung im Bundestagswahlkampf keine große Rolle gespielt hat, obwohl sich in den Wahlprogrammen der Ampel-Parteien höchst unterschiedliche Ansätze zur Lösung der Finanzprobleme finden.
Im Gesundheitswesen sehen SPD und Grüne nun die Chance gekommen, die seit Jahren geforderte Bürgerversicherung umzusetzen und die Beitragsbasis zu verbreitern. Auch Beamte, Selbstständige, Unternehmer und Abgeordnete sollen in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen – abhängig von ihren Gehältern und Kapitaleinkommen.
FDP will den Wettbewerb zwischen Kassen verstärken
Die FDP setzt hingegen auf mehr Wettbewerb zwischen Kassen und will den Wechsel zwischen privater und gesetzlicher Versicherung vereinfachen. Um die Pflegeversicherung zu stärken, fordern die Liberalen ein Drei-Säulen-Modell aus betrieblicher und privater Vorsorge sowie dem bestehenden Umlageverfahren.
Allerdings ist umstritten, ob das Gesundheitssystem durch ein Ende des Nebeneinanders von privater und gesetzlicher Krankenversicherung tatsächlich besser finanziert wäre. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat ausgerechnet, dass die Bürgerversicherung für die heute gesetzlich Versicherten in den ersten sechs Jahren tatsächlich niedrigere Beiträge bedeuten würde, diese danach aber wieder auf dem Niveau von heute wären.
Ein Gutachten des Bremer Professors Heinz Rothgang im Auftrag der Linksfraktion kommt hingegen zu dem Schluss, dass der Beitragssatz um bis zu 3,5 Prozentpunkte unterhalb des Status quo liegen würde, wenn alle in die Bürgerversicherung einzahlen und jede Form von Erträgen berücksichtigt würde.
Auch in der Rentenpolitik gehen die Vorstellungen der möglichen Ampelkoalitionäre auseinander. SPD und Grüne versprechen ein langfristig stabiles Rentenniveau von mindestens 48 Prozent, das sich nur mit höherer Erwerbstätigkeit, steigenden Beiträgen, einem größeren Steuerzuschuss oder einer Anhebung des Rentenalters realisieren ließe. Die FDP fordert den Einstieg in eine zusätzliche kapitalgedeckte Säule, die aber eine Ansparphase erfordert und keine kurzfristigen Finanzierungsprobleme löst.
Probleme der Rentenpolitik
Dabei sind diese Probleme schon ohne weitere Leistungsausweitungen gravierend. Im Sommer hatte das Ifo-Institut in Dresden ausgerechnet, wie sich allein die Alterung der Gesellschaft und die seit 2013 von der Großen Koalition beschlossenen Rentenreformen auf die Finanzen auswirken. In einer Modellrechnung untersuchten sie, wie stark der Mehrwertsteuersatz steigen müsste, wenn man die erwarteten zusätzlichen Kosten allein über diese Steuer finanzieren würde.
Demnach müsste er von aktuell 19 Prozent auf 23 Prozent im Jahr 2030 steigen. 2050 wären es dann schon 27 Prozent, wobei sich drei Viertel des Anstiegs auf die Alterung und ein Viertel auf die Reformen der Jahre 2014 bis 2020 zurückführen ließen.
Auch im Gesundheitswesen lebt Deutschland schon lange über seine Verhältnisse. So wuchsen im Zeitraum von 1999 bis 2019 die beitragspflichtigen Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung je Mitglied um knapp 1,8 Prozent, während die Ausgaben je Versicherten im Schnitt um 3,2 Prozent zunahmen.
Schreibt man diese Entwicklung in die Zukunft fort, wie es das Wissenschaftliche Institut der privaten Krankenversicherung (PKV) getan hat, ergeben sich beeindruckende Zahlen: Soll der Krankenkassenbeitrag stabil gehalten werden, um die Sozialbeiträge insgesamt nicht über die 40-Prozent-Marke steigen zu lassen, müsste der Bundeszuschuss bei der angenommenen Beitrags- und Kostenentwicklung auf gut 83 Milliarden Euro im Jahr 2030 steigen. In der Summe der Jahre 2022 bis 2030 wären insgesamt knapp 472 Milliarden Euro zusätzliche Steuermittel erforderlich.
IW-Ökonom Jochen Pimpertz macht einen Reformvorschlag: „Ein Weg, die Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu wahren, wäre, die solidarisch über Beiträge zu finanzierenden Leistungsausgaben einzufrieren und in der gesetzlichen Krankenversicherung eine zweite Säule aufzubauen.“
Versicherte könnten Prämienhöhe selbst beeinflussen
Innerhalb dieser hätten die Versicherten dann die Wahl zwischen verschiedenen Versorgungsmodellen und könnten so die Prämienhöhe selbst beeinflussen. Es stehe aber zu befürchten, dass sich eine Ampelkoalition eher auf andere, vermeintlich einfache Wege verständigen wird, um die gesetzliche Krankenversicherung zu alimentieren – etwa eine Anhebung der Bemessungsgrenze.
Grund für die ausufernden Kosten sind nicht nur die Coronagesetze, für die die Kassen allein im vergangenen Jahr 4,4 Milliarden Euro ausgaben. Nach Angaben des AOK-Bundesverbandes verursachen die von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf den Weg gebrachten Reformgesetze zwischen 2019 und 2022 Mehrausgaben von knapp 33 Milliarden Euro.
Vor einem ähnlichen Problem wie die Krankenversicherung steht auch die Pflegeversicherung. Zwar hat der jetzt erforderlich gewordene Bundeszuschuss vor allem mit der Coronapandemie zu tun. Doch bis 2022 könnte das Defizit der Pflegekassen nach Einschätzung des AOK-Bundesverbands auf drei Milliarden Euro anwachsen. Ohne einen Zuschuss in entsprechender Höhe würden Beitragserhöhungen drohen.
Und dabei sind neue Forderungen, die jetzt auf dem Pflegetag laut wurden, noch gar nicht berücksichtigt.
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