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Sozialstaat Bis 2030 droht ein Anstieg auf 45 Prozent – Gutachten warnt vor Kostenexplosion bei Sozialbeiträgen

Eine Studie zeigt: Ohne Reformen in den Sozialversicherungssystemen steigen die Beiträge massiv. Der Bundeshaushalt würde trotzdem stark belastet.
02.11.2021 Update: 02.11.2021 - 16:37 Uhr 4 Kommentare
Vor allem die Kosten für Gesundheit und Pflege laufen aus dem Ruder. Quelle: imago images/allOver-MEV
Pflegerin mit Seniorin im Rollstuhl

Vor allem die Kosten für Gesundheit und Pflege laufen aus dem Ruder.

(Foto: imago images/allOver-MEV)

Berlin In der kommenden Wahlperiode droht ein starker Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge, wenn die künftige Bundesregierung nicht gegensteuert. Bei der in der Frühjahrsprojektion vom April 2021 angenommenen wirtschaftlichen Entwicklung und Fortschreibung des geltenden Rechts werden die Beiträge zur Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung von aktuell knapp 40 Prozent bis 2025 auf 43,2 Prozent steigen.

Dies prognostizieren die Ökonomen Martin Werding von der Universität Bochum und Thiess Büttner von der Universität Erlangen-Nürnberg in einem Gutachten für den Spitzenverband der privaten Krankenversicherung (PKV). Ihre Expertise liegt dem Handelsblatt vor. Bis 2030 droht demnach ein Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge auf 45 Prozent.

Um die Leistungszusagen finanzieren zu können, müssten nach den Berechnungen der Wissenschaftler neben den Beitragssätzen auch die Steuerzuschüsse kräftig steigen – und zwar von 144 Milliarden Euro im laufenden Jahr auf 179 Milliarden Euro im Jahr 2030. So erhält beispielsweise die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) allein für das kommende Jahr einen Rekordzuschuss von 28,5 Milliarden Euro, damit die Beiträge stabil bleiben können. Auch die Pflegeversicherung ist auf Milliarden vom Bund angewiesen.

PKV-Spitzenverband warnt vor fehlendem Spielraum für Investitionen

„Die Zuschüsse an die Kranken- und Pflegeversicherung belasten den Staatshaushalt massiv mit zusätzlichen Schulden“, sagte PKV-Verbandsdirektor Florian Reuther dem Handelsblatt. „Sie rauben den Spielraum für Investitionen in Klimaschutz, Bildung und Digitalisierung.“

Dies gilt erst recht, wenn sich die künftige Bundesregierung entscheiden sollte, die Gesamtbelastung durch Sozialbeiträge nicht über die 40-Prozent-Marke steigen zu lassen und damit die für das laufende Jahr geltende „Sozialgarantie“ fortzuschreiben.

Dann wären aus dem Bundeshaushalt allein für die Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2025 zusätzliche 144 Milliarden Euro an Steuermitteln erforderlich, um den Demografie- und Kostendruck in den Sozialkassen zu bewältigen.

„Nach der Coronakrise und wegen vieler Zukunftsaufgaben steht der Bundeshaushalt sowieso schon vor großen Herausforderungen“, sagte Werding dem Handelsblatt. Die Beitragssätze der Sozialversicherungen mit zusätzlichen Steuermitteln zu stabilisieren sei in dieser Situation kaum machbar. „Länger als eine Legislaturperiode ließe sich das auf keinen Fall durchhalten.“

Auch der Kronberger Kreis – ein Zusammenschluss namhafter wirtschaftsliberaler Hochschulprofessoren – sieht in den steigenden Kosten der sozialen Sicherungssysteme ein Problem für den Standort Deutschland. „Die Dynamik bei den Sozialausgaben sollte man nicht einfach so hinnehmen“, sagte der Vorsitzende Lars Feld am Dienstag bei der Präsentation eines Gutachtens mit Vorschlägen für ein Regierungsprogramm, insbesondere zu Fragen des demografischen Wandels.

Vor allem im Gesundheits- und Pflegebereich laufen die Ausgaben aus dem Ruder. Erst Anfang Oktober hatte der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der GKV zusätzliche sieben Milliarden Euro zugesagt, sodass der Bundeszuschuss für das kommende Jahr auf 28,5 Milliarden Euro steigt.

Ein gut ausgestattetes Gesundheitssystem „kostet nun mal Geld“, sagte Spahn dazu kürzlich im Interview mit dem Handelsblatt. Als Beispiel nannte er digitale Innovationen, besser bezahlte Pflegekräfte und eine flächendeckende Versorgung mit Krankenhäusern.

„Das alles morgens zu fordern und abends über steigende Krankenkassenbeiträge zu meckern passt nicht zusammen“, sagte der CDU-Politiker. Der Zuschuss in die Kranken- und Pflegeversicherung müsse deswegen weiter steigen.

Krankenkassen fordern nachhaltige Finanzierung der Gesundheitsausgaben

Die Kassen fordern aber eine nachhaltige Finanzierung, sonst drohe eine „Explosion“ der Beitragssätze, warnte die Vorstandsvorsitzende des Verbands der Ersatzkassen, Ulrike Elsner, am Dienstag. Auch der Chef der Techniker Krankenkasse, Jens Baas, geht davon aus, dass die neue Bundesregierung trotz des hohen Bundeszuschusses nicht darum herumkommen wird, die Beiträge zu erhöhen und die „Sozialgarantie“ zu beerdigen.

Falle die 40-Prozent-Marke erst einmal, könnten die Beiträge schnell steigen, sagte Baas dem Handelsblatt. „Deswegen ist mein Plädoyer: Wir müssen an die Ausgaben ran. In den vergangenen acht Jahren wurde das System nur teurer.“

Ähnlich kritisch ist die Finanzlage der gesetzlichen Pflegeversicherung. Nach Berechnungen des GKV-Spitzenverbands stehen im kommenden Jahr Einnahmen von 52,62 Milliarden Euro Ausgaben von 54,48 Milliarden Euro gegenüber. Daraus ergibt sich ein Defizit von 1,86 Milliarden Euro, in dem allerdings noch keine Coronaausgaben berücksichtigt sind.

„Die Stabilisierung der Finanzen der Pflegeversicherung wird für die Ampel eine zentrale Aufgabe darstellen. Sie sollte schnell handeln“, forderte GKV-Vorstand Gernot Kiefer vergangene Woche im Handelsblatt.

Noch gar nicht einbezogen sind möglicherweise teure Vorhaben einer möglichen Ampelkoalition wie ein gedeckelter Pflege-Eigenanteil. Wie genau SPD, Grüne und FDP die Finanzen stabilisieren wollen, ist bislang noch völlig offen. Im Sondierungspapier finden sich etwa mit der Zusage für mehr und besser bezahlte Pflegekräfte nur weitere Belastungen für die Kassen.

Aussetzung des Nachholfaktors kommt die Rentenkasse teuer zu stehen

In der Rentenkasse kommt es zu Mehrausgaben, weil die Große Koalition den sogenannten Nachholfaktor, der in konjunkturellen Krisenzeiten Rentenerhöhungen dämpft, bis 2025 ausgesetzt hat. Laut dem Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung wird der Rentenbeitragssatz von heute 18,6 Prozent bis 2030 um drei Prozentpunkte steigen.

Der Bund muss dann nach Berechnungen von Werding und Büttner statt aktuell knapp 104 Milliarden Euro bereits 146 Milliarden Euro zuschießen. Und auch die Arbeitslosenversicherung muss ihre nach den Corona-Rekordausgaben leeren Kassen wieder auffüllen. Laut Gesetz wird der Beitragssatz 2023 wieder von 2,4 auf 2,6 Prozent angehoben.

Nicht nur PKV-Verbandsdirektor Reuther, sondern auch Büttner und Werding beklagen, dass der wachsende Zuschussbedarf aus dem Bundeshaushalt den Spielraum für Investitionen nimmt.

Selbst wenn die Beitragssätze steigen, wie in ihrem Basisszenario angenommen, steigt der Konsolidierungsbedarf im Bundeshaushalt nahezu kontinuierlich auf bis zu 44 Milliarden Euro im Jahr 2030 an, wenn die Schuldenbremse eingehalten werden soll.

Die Regierung müsste also massiv Ausgaben an anderer Stelle kürzen, um die Bundeszuschüsse unter Einhaltung der Schuldenregeln finanzieren zu können. Sollen die Beitragssätze unter 40 Prozent stabilisiert werden, müsste der Bund, wie beschrieben, für die Jahre 2022 bis 2025 zusätzliche 144 Milliarden Euro aufbringen.

Das ist mehr als die in der Finanzplanung des Bundes für diesen Zeitraum vorgesehenen Ausgaben für Verkehr und digitale Infrastruktur mit 126 Milliarden Euro.

Die Ökonomen des Kronberger Kreises halten die bisher avisierten Maßnahmen von SPD, Grünen und FDP zur Stabilisierung der Sozialsysteme für bei Weitem nicht ausreichend. „Die Mittel aus dem Bundeshaushalt werden zukünftig steigen“, warnte Berthold Wigger, Professor für Finanzwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie. Mit fiskalischer Haushaltsdisziplin sei das nicht vereinbar.

Kronberger Kreis schlägt Schutzmechanismus für den Bundeshaushalt vor

Der Kronberger Kreis hält daher einen Schutzmechanismus für den Bundeshaushalt für notwendig. Dem Wunsch nach Leistungsausweitungen in den Sozialversicherungen entgegenzutreten werde keine leichte Aufgabe der neuen Bundesregierung sein, weil die älteren Personen politisch mehr und mehr an Gewicht gewinnen würden, heißt es im Gutachten.

Die Professoren schlagen daher vor, die Durchsetzung von Steuerzuschüssen in die sozialen Sicherungssysteme zu erschweren. Für solche Entscheidungen könne etwa initiiert werden, dass der Gesetzgeber sie mit einer Zweidrittelmehrheit beschließen muss.

Außerdem sehen die Ökonomen es als notwendig an, den Nachholfaktor in der Rentenformel rasch wieder einzusetzen. „Das macht relativ viel aus“, sagte Feld. Mit Nachholfaktor würden die Renten 2022 wohl nur um 2,5 bis 2,8 Prozent steigen statt um 5,5 Prozent.

„Das derzeitige Aussetzen des Nachholfaktors kommt einer Manipulation der Rentenformel zulasten der jüngeren Generationen gleich“, ergänzt Wigger. Die Wiedereinsetzung sei nichts anderes als eine faire Lastenverteilung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise zwischen den Erwerbstätigen und den Rentnern.

Zuletzt schlägt der Kronberger Kreis eine Erhöhung des Renteneintrittsalters vor. Ab dem Jahr 2031 müsse es angehoben und an die Entwicklung der Lebenserwartung gekoppelt werden. Der demografische Wandel sei allen voran für die Entwicklung der Rentenversicherung eine große Herausforderung, betonte Wigger: „Von daher ist es sehr bedauerlich, dass man sich wohl bei den Koalitionsverhandlungen geeinigt hat, das Renteneintrittsalter nicht zu erhöhen.“

Mehr: Arbeitgeber sehen die 40-Prozent-Marke der Sozialabgaben in Gefahr

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4 Kommentare zu "Sozialstaat: Bis 2030 droht ein Anstieg auf 45 Prozent – Gutachten warnt vor Kostenexplosion bei Sozialbeiträgen"

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.

  • Und da sagt doch unser Superkanzler in Spe, dass sich all die Experten geirrt haben, die versucht haben die Politiker rechtzeitig vor der Pleite der Rentenversicherung zu warnen. Mit dieser Lüge hat unser Nochfinanzminister die Wahl gewonnen. Das haben natürlich die Meinungsmacher aus den Reihen der Journalisten nicht zur Kenntnis genommen. Natürlich hat der das gewusst. Diese Lüge war in meinen Augen wahlentscheident und sollte die FDP warnen.

    Ich warte immer noch, wie FDP-Lindner die Quadr atur des Kreises machen will und der sog. Ampel beitritt. Herr Laschet, der das einzige Zukunftsprogramm hatte, wurde wie seinerzeit Herr Wulf als Bundespräsident aus dem Wahlkampf gemobbed. Mich berührt das alles nicht mehr, ich bin schon 83 Jahre alt.

  • Ich bin im Ruhestand und ja natürlich ist die Aussetzung des Nachholfaktors die ich persönlich nicht nötig habe im Grunde ein Skandal. Nur ich werde den Teufel tun und auf das Geld verzichten. Warum weil ich nicht will das dieses Geld dann für die " Aufnahme der Welt " in Deutschland, EU-Länder deren Bürger teils weit hochgradiger im Eigentum wohnen und teils viel früher in Ruhestand gehen wie wir, usw., usw. Verwendung findet . Ist doch bei ideologiefreier Betrachtung recht einfach zu verstehen oder? Wen das Geld für Einheimische die es auch mitfinanzieren Verwendung finden würde wäre das Ganze für mich völlig anders und selbst ggfs. sogar der Verzicht für mich kein Thema.

  • Es kamen Millionen von Menschen in die BRD, die Leistungen erhalten, ohne eine einzigen Kreuzer einzuzahlen. Wenn Politiker dies so zulassen, dann bitte aus Steuergeldern finanzieren und nicht die Beitragszahler schröpfen. Die Altparteien tun mal wieder alles, um künftig abgewählt zu werden.

  • Naja, wann hat es in der GKV mal eine Reform gegeben, die den Namen auch verdient? Also nicht nur Leistungen kürzen....eben, noch nie.

    Es gibt nicht nur ein strukturelles Problem (rund 110 rechtlich unabhängige Einheiten namens Krankenkasse mit entsprechenden Parallelstrukturen und -systemen, die sich gegenseitig beim 'Gesundheitsfonds' betrügen, ohne sich wirklich differenzieren zu können, da die Leistungen gesetzlich festgelegt sind) sondern auch ein Transparenzproblem: Nachdem ein Versicherter seine Karte abgegeben hat, kann damit alles Mögliche abgerechnet werden - er wird es nie erfahren. Auch gibt es für Versicherte keinen Anreiz zu hinterfragen, ob man mit laufender Nase wirklich zum Arzt gehen muss, oder ob man den Schnupfen auch mit Hausmitteln behandeln kann.

    Zwei Fliegen mit einer Klappe: Der Patient bekommt die Rechnung vom Arzt, und die Kasse ersetzt ihm 80-90%. Das fördert die Transparenz wie auch das Nachdenken über eigenes Handeln.

    Und kommt bitte nicht wieder mit der Behauptung, das wäre 'unsozial': In anderen Ländern, z.B. Belgien, funktioniert es auch....

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