Berlin Wenn Manfred Heimberg sich entscheiden muss, dann zeigt er als Erstes die Röntgenmaschine: 10.000 Euro hat das Gerät gekostet, das ungefähr so groß ist wie ein Backofen. „14 Tage ist der Physik-Leistungskurs damit beschäftigt zu untersuchen, wie weit Atome voneinander entfernt sind“, sagt der stellvertretende Leiter des Lessing-Gymnasiums in Berlin, das einen besonderen Fokus auf naturwissenschaftliche Fächer legt.
Laut einer Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft fehlen derzeit rund 137.000 Arbeitskräfte in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT). Bis 2020 könnte sich der Fachkräftemangel Institutsprognosen zufolge verschärfen. Deswegen soll der Forschernachwuchs bereits jetzt gestärkt werden – an den Schulen.
Hochbegabte experimentieren
Der Verbund der Schulen in Berlin-Mitte fördert besonders begabte Schüler schon früh in den MINT-Fächern.
Quelle: Marc-Steffen Unger für Handelsblatt
Die unterscheiden sich in drei Spezialisierungsstufen: MINT-freundliche Schulen wie das Lessing-Gymnasium, Schulen mit MINT-Spezialklassen wie die Goetheschule in Ilmenau und Spezialschulen wie das Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium in Frankfurt an der Oder.
Kleine Leistungskurse
In die erste Kategorie der MINT-freundlichen Schulen fallen knapp 1000 Einrichtungen. Als solche ausgezeichnet hat sie ein Netzwerk des Bundesverbands der Deutschen Industrie und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, die Initiative MINT Zukunft schaffen: Für die Auszeichnung müssen die Schulen einen MINT-Schwerpunkt nachweisen. Die rund 800 Schüler des Lessing-Gymnasiums haben ab der fünften Klasse zusätzliche Unterrichtsstunden in Biologie, Chemie und Physik. In der zwölften Klasse können sie den Kurs „Wissenschaftliches Arbeiten in Studium und Beruf im MINT-Bereich“ wählen. „Zudem versuchen wir, immer Experimente in den Unterricht einzubauen und praxisnah zu arbeiten“, sagt Heimberg, der seit über 30 Jahren an dem Gymnasium im Wedding arbeitet und Physik und Mathe unterrichtet: „Wir sind aber keine reine MINT-Schule.“ Dann zeigt er sowohl den schuleigenen Server, der mit 20 Kilometer Glasfaserkabel über 200 Computer verbindet, als auch die Bühne der Theater AG.
Doch die MINT-Förderung hat hier lange Tradition: Die älteste der ausgestellten „Jugend forscht“-Urkunden ist von 1968: „Nur wer MINT-Fächer lernt, versteht, wie die Welt funktioniert.“ Das möchten viele, jedes Jahr müssen Heimbach und seine Kollegen Schüler abweisen. Dafür sitzen dann in den Leistungskursen – allein in Mathematik und Physik hat das Gymnasium jeweils zwei – teilweise nur acht Schüler.
Roboter zum Anfassen
Programmieren spielend lernen können Kinder schon in der Schule – wenn sie Zeit dafür bekommen.
Quelle: Marc-Steffen Unger für Handelsblatt
Diese Haltung ist teuer. Das Gymnasium kooperiert deshalb unter anderem mit Unternehmen wie der Bayer Pharma AG und dem Spezialchemie-Unternehmen Atotech Deutschland. Das bedeutet, dass auf Flyern und bei Veranstaltungen auch manchmal das Logo eines Unternehmens zu sehen ist: „Aber ohne Spenden der Industrie könnten wir nicht die gleichen Angebote machen, die unsere Schule heute hat.“
Nur 20 Plätze pro Jahrgang
Unternehmen wie Bayer sehen ihren langfristigen Vorteil: „Wir bieten Einblicke in unsere Arbeit, damit Pharmaforschung für Lehrer und Schüler anfassbarer wird“, sagt Ulrike Schröder von Bayer HealthCare. „Natürlich freuen wir uns, wenn sich die Schüler später für eine Forschungslaufbahn entscheiden.“
Dass es im MINT-Bereich schon jetzt einen Fachkräftemangel gibt, merken nicht nur die Firmen, sondern auch die Schulen mit MINT-Spezialklassen, denn die Nachfrage ist groß. An der Goetheschule Ilmenau können sich die eigenen Schüler und externe Gymnasiasten ab der neunten Klasse auf einen der 20 Plätze pro Jahrgang in der Spezialklasse bewerben. „Bewerbungen kommen nicht nur aus Thüringen, sondern aus ganz Deutschland“, sagt Schulleiter Volker Rusch. Die Spezialschüler haben mehr Unterricht in den MINT-Fächern, dazu schreiben sie Facharbeiten mit wissenschaftlichem Anspruch und nehmen an „Jugend forscht“ teil. „Unsere Schüler gehen mit einem völlig anderen Fundament in ihr Studium als andere Abiturienten“, betont Rusch.
Die ersten Semester fielen ihnen leichter, weil sie das wissenschaftliche Arbeiten schon kennen. Die Goetheschule in Ilmenau ist wie das Lessing-Gymnasium auch Mitglied im Verein MINT-Excellence (MINT-EC). Der zeichnet Schulen aus, die eine starke Fokussierung über das übliche Maß an MINT-Angeboten bieten. Die Schüler und Lehrer der Schulen können an speziellen Programmen des Vereins teilnehmen. Außerdem erhalten die Schüler ein Zertifikat des Vereins, in dem ihnen ihre naturwissenschaftliche Spezialisierung bestätigt wird. Derzeit sind 212 Schulen zertifiziert.
Begabungen fördern
Im Anspruch darüber hinaus gehen dann nur noch die Bildungseinrichtungen, die sich komplett der MINT-Förderung verschrieben haben, so wie das Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium in Frankfurt (Oder). Es richtet sich an besonders begabte Kinder, im Eignungstest müssen sie ihr Wissen aus Mathematik, Biologie und Physik unter Beweis stellen. „Die Lernumgebung ist auf MINT-Fächer ausgelegt, und die Anforderungen sind sehr hoch“, sagt die Schulleiterin Rita Lange. Alle drei Naturwissenschaften müssen bis zum Abitur belegt werden. In der zehnten Klasse gibt es beispielsweise vier Stunden Mathe, Physik, Chemie und Biologie.
Faktoren für den Schulerfolg
Von der fünften bis zur neunten Klasse haben alle Schüler Informatikunterricht. „Die Schule ist insbesondere für Kinder geeignet, die auch ein besonderes Interesse und eine Begabung in einem dieser Fächer haben“, so die Direktorin. Fast alle Absolventen nähmen ein naturwissenschaftliches Studium auf. Zudem machten viele bereits vorher als Teilnehmer von Jugend-Wettbewerben auf sich aufmerksam.
Keine Finanzspritze vom Land
Historisch ist die Schule als Nachwuchsschmiede für eine Halbleiterforschungs- und Produktionsstätte der DDR entstanden. Heute bewerben sich für die fünfte Klasse 71 Kinder auf 26 Plätze. Für die Finanzierung – denn auch hier gibt das Land nichts – kooperiert das Gauß-Gymnasium beispielsweise mit dem Leibniz-Institut für innovative Mikroelektronik. „Unabhängig vom Geld haben wir an unserer Schule sehr helle Köpfe“, sagt Lange. „Da brauchen wir als Lehrer auch manchmal externe Unterstützung, um mitzuhalten und unseren Schülern alles ermöglichen zu können.“
Doch genau das ist der entscheidende Punkt: Die Schüler müssen das Interesse an MINT-Themen von selbst entdecken und verfolgen, nicht die Eltern sich auf die Förderung versteifen. Manfred Heimberg vom Lessing-Gymnasium betont: Begeisterungsfähig und kreativ sollten die Kinder sein. Kommt ein Schüler in den MINT-Fächern nicht zurecht, sei das kein Problem. „Sie kommen mit gerade einmal zehn Jahren zu uns“, sagt er. „Da muss noch nicht alles entschieden sein.“
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