Stabilitätspakt Die EU-Kommission streitet ums Schuldenmachen für den Klimaschutz

Bis 2050 soll die europäische Wirtschaft klimaneutral werden.
Brüssel Der europäische Traum ist grün geworden: Noch nie hat sich eine EU-Kommission derart ehrgeizige ökologische Ziele gesetzt. Das gilt nicht nur für die Präsidentin Ursula von der Leyen, sondern auch für die beiden Wirtschaftspolitiker in ihrem Kollegium. „Ich werde dafür sorgen, massiv private und öffentliche Mittel zu mobilisieren, um den grünen Wandel zu finanzieren“, kündigte Kommissionsvize Valdis Dombrovskis Anfang des Jahres in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt an.
Auch EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni engagiert sich für die Umwelt. Es gelte, die „mit dem Klimawandel verbundenen Chancen zu erkennen“ und zu nutzen, sagte der Italiener in seiner ersten programmatischen Rede in Brüssel. Bis 2050 soll die europäische Wirtschaft klimaneutral werden.
Über das Ziel sind sich alle EU-Kommissare einig, nicht jedoch über den Weg dorthin. Zwischen Christdemokrat Dombrovskis und Sozialdemokrat Gentiloni habe es den ersten Zusammenstoß gegeben, berichten EU-Diplomaten. Anlass für die Auseinandersetzung: die in diesem Jahr anstehende Reform des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts.
Die fiskalpolitischen Vorschriften des 1997 beschlossenen Pakts wurden in den vergangenen Jahren immer wieder aufgeweicht. Nun diskutiert die Kommission erneut über eine Lockerung des Regelwerks. Begründung: Die Euro-Staaten brauchen finanziellen Spielraum für milliardenschwere Investitionen, um den CO2-Ausstoß ihrer Volkswirtschaft zu senken.
Gentiloni wolle deshalb eine neue Flexibilitätsklausel in den Pakt einfügen, heißt es in Brüssel. Steigende Defizite und Schulden sollen demnach erlaubt werden, wenn es um Staatsausgaben für den Klimaschutz gehe.

Der frühere lettische Premier ist Christdemokrat und als Kommissionsvize für die Euro-Zone zuständig.
Dombrovskis hält nichts von solchen Lockerungsübungen. „Mit einer grünen goldenen Regel ließen sich alle möglichen Ausgaben rechtfertigen. Das könnte einen Dammbruch auslösen“, sagte ein hochrangiger EU-Diplomat.
Für Dombrovskis ist die Auseinandersetzung eine Art Déjà-vu. Schon unter Kommissionschef Jean-Claude Juncker war er als Kommissionsvize für die Euro-Zone zuständig und prallte in dieser Zeit immer wieder mit dem damaligen Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici zusammen. Auf den französischen folgte am 1. Dezember ein italienischer Sozialdemokrat.
Fokus auf öffentliche Investitionen
Weil Gentiloni professioneller agiere als sein Vorgänger, komme Dombrovskis im persönlichen Umgang besser mit ihm zurecht, berichten Insider. Doch die politischen Differenzen seien dieselben wie vorher: Während Dombrovskis die Haushaltsdisziplin in der Euro-Zone verteidigt, legt der Wirtschaftskommissar den Fokus auf öffentliche Investitionen.
Das tut auch Gentiloni. „Der Stabilitätspakt sieht zwar Obergrenzen für Defizite und Schulden vor, aber die EU kann Mitgliedstaaten nicht dazu zwingen, die fiskalische Expansion voranzutreiben“, klagt der Italiener. Zwar müssten hochverschuldete Länder ihren Staatshaushalt in Ordnung bringen, doch finanziell gesunde Länder sollten endlich die Staatsausgaben erhöhen.

Der EU-Wirtschaftskommissar ist Sozialdemokrat und kommt aus Italien.
Bisher hat weder das eine noch das andere funktioniert: Italien, Frankreich und Spanien gelang es trotz Hochkonjunktur nicht, aus der Schuldenfalle herauszukommen. In Deutschland und den Niederlanden war es umgekehrt: Sie sparten nach Kräften und erhöhten nur zögerlich die staatlichen Investitionen.
Entsprechend unzufrieden ist die EU-Kommission mit der europäischen Fiskalpolitik und ihrem Regelwerk. Am 5. Februar legt die Brüsseler Behörde eine Bestandsaufnahme zum Stabilitätspakt vor – sie wird sehr gemischt ausfallen. Der Rückgang der durchschnittlichen Defizitquote in der Euro-Zone auf zuletzt 0,5 Prozent sei kein Verdienst des Stabi-Pakts, sondern Resultat des guten Wachstums der vergangenen Jahre, heißt es in Brüssel.
In den Problemländern – Italien, Frankreich, Belgien, Spanien – verbesserte sich die Lage nicht – im Gegenteil. Die Gesamtverschuldung verharrte auf hohem Niveau. Die Haushaltsdefizite dieser Länder nahmen zuletzt wieder zu und stiegen teilweise sogar über die EU-Obergrenze von drei Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung.
Die immer größere Kluft zwischen finanziell stabilen Staaten und hochverschuldeten Ländern treibt viele EU-Kommissare um. „Die Höhe der Verschuldung und die Unterschiede zwischen unseren Ländern“ seien das Hauptproblem, konstatiert etwa der neue EU-Industriekommissar Thierry Breton. „Meine größte Sorge ist, wie wir mit den Diskrepanzen umgehen und sie lindern“, meint der Franzose.
Zugleich nimmt das europäische Wachstumspotenzial insgesamt ab. Die Wirtschaft der Euro-Zone werde in den nächsten Jahren nur noch schwach um rund einen Prozentpunkt zulegen nach einer Wachstumsrate von rund zwei Prozent in den vergangenen Jahren, prognostiziert Gentiloni.
Beide Ziele verfehlt
Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt verfehlte demnach beide Ziele: Weder hat er die Staatsfinanzen stabilisiert noch das Wachstum angekurbelt. Die fiskalpolitischen Regeln der Euro-Zone zeigen nicht die erwünschte Wirkung. Obendrein sind sie nach den vielen Eingriffen der vergangenen Jahre unverständlich geworden. Selbst Fachleute können kaum noch nachvollziehen, nach welchen Kriterien die EU-Kommission die Haushaltspläne der Mitgliedstaaten bewertet.
Kennziffern wie Potenzialwachstum oder strukturelles Defizit seien intransparent, monieren Kritiker. Der Europäische Fiskalrat, ein unabhängiges Beratungsgremium der EU-Kommission, hatte vergangenes Jahr eine radikale Vereinfachung vorgeschlagen: Das Defizitlimit solle durch eine mittelfristige Obergrenze für die primären Staatsausgaben ersetzt werden – eine Lösung, mit der sich Kommissionsvize Dombrovskis durchaus anfreunden könnte.
Die Kommission wird am 5. Februar wohl einräumen, dass der Stabilitätspakt zu kompliziert geworden ist. Über die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen gehen die Meinungen jedoch weit auseinander. Die Kommission beschloss deshalb, das Thema erst einmal zur Diskussion zu stellen: Die Euro-Finanzminister sollen sich darüber klar werden, ob und welche Reformen sie eigentlich wollen. Erst danach will die Kommission einen Vorschlag machen. Das werde frühestens im Sommer der Fall sein, heißt es in Brüssel.
Die neue EU-Kommission geht damit ganz anders vor als die alte: Vor fünf Jahren hatten Präsident Juncker und sein Wirtschaftskommissar Moscovici eine Befragung der Mitgliedstaaten nicht für nötig befunden. Die beiden entschieden eigenmächtig, den Pakt flexibler als vorher zu handhaben, und führten neue Ausnahmen ein.
Die Mitgliedstaaten dürfen seither Ausgaben für Investitionen und für Strukturreformen geltend machen, um ihr Haushaltsdefizit zu erhöhen. Insbesondere Italien nahm die neuen Flexibilitätsklauseln extensiv in Anspruch. Überfällige Strukturreformen in Italien blieben trotzdem aus. Die große Mehrheit der Euro-Staaten nutzte die neuen Ausnahmen gar nicht.
Alte Fronten brechen auf
Trotzdem will Gentiloni „die Flexibilität im Pakt weiterhin voll ausnutzen“, um so eine „wachstumsfreundliche Zusammensetzung der Staatsfinanzen zu befördern“. Ob sein Wunsch in Erfüllung geht, die Flexibilität zugunsten grüner Investitionen weiter auszubauen, ist freilich nicht sicher. In der Euro-Gruppe soll es im Frühjahr eine Diskussion darüber geben.
Dass sich die Euro-Finanzminister am Ende darauf einigen, für den Klimaschutz neue Ausnahmetatbestände in den Pakt einzufügen, ist wenig wahrscheinlich. Bei dem Thema würden die alten Fronten zwischen Süd und Nord neu aufbrechen, erwarten EU-Diplomaten. Italien werde vehement für mehr Flexibilität kämpfen und die Niederlande ebenso entschieden dagegen.
Theoretisch hätte die Kommission ohne Auftrag der Euro-Gruppe aktiv werden und die Vorschriften des Pakts noch laxer als bisher handhaben können. Dass die Behörde sich dagegen entschied, deutet auf geänderte Machtverhältnisse in der wichtigsten EU-Institution hin. Unter Juncker hatte der auf Haushaltsdisziplin bedachte Dombrovskis Mühe, sich durchzusetzen – auch wenn es um mögliche Strafverfahren gegen Defizitsünder wie Italien ging.
Nach Junckers Abschied scheint sich seine Lage in der EU-Kommission verbessert zu haben. Die neue Kommissionspräsidentin hält sich offenbar heraus, wenn ihre beiden Wirtschaftskommissare aneinandergeraten. An der internen Debatte um die grüne „golden rule“ im Stabilitätspakt habe sich von der Leyen kaum beteiligt, heißt es in Brüssel. Daher könnte es zwischen den Befürwortern und Gegnern laxerer Haushaltsvorschriften zu einem dauerhaften Patt kommen – und dann bliebe der Stabilitätspakt weitgehend so, wie er ist.
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