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StatistikWas heißt eigentlich Mittelschicht?
Vier Ökonomen, fünf Meinungen: Bis heute fällt es Wissenschaftlern schwer, sich auf eine Definition von Mittelschicht zu einigen. Dabei beziehen sich viele Studien auf dieselbe Basis.
Düsseldorf Reihenhaus am Stadtrand, der Kombi vor der Tür, Klavierunterricht für die ältere Tochter, Mathematiknachhilfe für den jüngsten Sohn, das ist das Klischeebild der deutschen Mittelschicht – bürgerlich, vielleicht ein wenig spießig, aber eben frei von finanziellen Ängsten.
Schon der griechische Philosoph Aristoteles wusste, warum die Mitte der Gesellschaft so wichtig ist. „Der Staat ist am besten verwaltet und regiert, in welchem der Mittelstand der zahlreichste ist“, sagte er. Und die Mittelschicht ist jener Teil einer Gesellschaft, der ökonomisch besonders leistungsfähig ist, fügen Wirtschaftsforscher wie Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin aus heutiger Sicht hinzu.
Dass sich diese Mitte in Deutschland verkleinert, ist daher eine schlechte Nachricht. „Die Entwicklung ist nicht dramatisch, aber beunruhigend“, sagt Ökonom Thorsten Kalina. Er forscht am Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. „Nehmen wir zum Beispiel den Postzusteller, der nach den Privatisierungen der Branche zum Teil aus der Mittelschicht herausgefallen ist.“ Aber auch so mancher Architekt, der sich gerade so über Wasser hält, und andere Akademiker bangen um ihren Status.
In den Jahren von 1992 (56 Prozent) bis 2013 (48 Prozent) ging laut IAQ-Analyse der Anteil von Haushalten mit mittlerem Einkommen vor Steuern, Sozialabgaben und -transfers um fast zehn Prozent zurück. Wer über 60 Prozent bis unter 200 Prozent des Medianeinkommens verfügt, gehört demnach zur dreigegliederten Mittelschicht. Der statistische Mittelwert vor Umverteilung lag dabei für einen Singlehaushalt im Jahr 2013 bei monatlich 1 698 Euro.
Grundlagen – Begriffe zur Mittelschicht
Median Der Mittelwert zerteilt einen Datensatz in zwei gleich große Hälften. Weniger als der Durchschnitt wird er von Ausreißerwerten verzerrt. Medianeinkommen 2012: 1 712 Euro.
Die unteren und oberen Grenzen einer Gesellschaftsschicht werden in Prozentangaben des Medianeinkommens definiert.
Für die Umrechnung des Medianeinkommes auf einen Paarhaushalt oder eine Familie wird üblicherweise die OECD-Skala verwendet. Bei einer vierköpfigen Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren wird der Wert des Singlehaushalts mit 2,1 multipliziert, beim Paarhaushalt mit 1,5 gewichtet.
„Für viele Menschen ist es schwierig, von ihrer Arbeit zu leben, weil sie nur noch Teilzeit- oder Minijobs annehmen können“, sagt Kalina. Zwar federe der Sozialstaat die Entwicklung ab. „Aber was ist in wirtschaftlich schwierigen Zeiten?“ Der Abwärtstrend verstärkt sich. Die Mitte „glaubt heute längst nicht mehr daran, dass ihre soziale Position gesichert ist“, urteilt auch der Soziologe Heinz Bude, Professor an der Universität Kassel.
Studien zum Thema Mittelschicht sorgen stets für große Aufregung – nicht zuletzt deshalb, weil es die unterschiedlichsten Definitionen der Mittelschicht gibt.
Jeder dürfe sich darunter vorstellen, was er wolle, schreibt Gert Wagner vom DIW. Zählen Studenten aufgrund ihres geringen Einkommens zur Unterschicht? Ist das Lehrerehepaar ohne Kinder Oberschicht? Der Experte empfiehlt zum Beispiel den Blick auf konkrete Lebenslagen in den Bereichen Bildung, Arbeit und verfügbares Einkommen zu richten. Dennoch bleibt es in der jeweiligen Perspektive, der Definition, der Interpretation des Betrachters, was genau „die Mittelschicht“ ist.
So gibt es mindestens ebenso viele Wissenschaftler, die zu einem ganz anderen Fazit gelangen als die Duisburger Experten. Eine von ihnen ist Judith Niehues vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW). „Aus ökonomischer Sicht ist die Mittelschicht aktuell sogar bessergestellt, als es die häufig dokumentierten Ängste und Sorgen vermuten lassen“, sagt sie. Grund dafür sei die gute wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands. Und die Mittelschicht „profitiert auch davon“.
Die aktuelle IW-Studie gliedert die deutsche Gesellschaft in Einkommensschichten nach Nettoeinkommen. Zur dreigegliederten Mittelschicht zählt, wer zwischen 80 und 150 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung hat. Bei einer vierköpfigen Familie mit zwei Kindern unter 14 liegt das monatliche Nettoeinkommen nach der Gewichtung zwischen 2 856 und 5 355 Euro.
Doch die Forscher berücksichtigten auch die Zahlungen vom und an den Staat. Was wird zum Beispiel an Steuern, Rentenversicherung, Arbeitslosen- und Krankenversicherung abgezogen? Was gibt der Staat an Steuerrückzahlungen, Bafög, Elterngeld und vieles mehr zurück? „Es sind 81 Euro, die der durchschnittliche Mittelschichtsbürger mehr bezahlt, als er bekommt“, sagt Niehues. Wohlgemerkt durchschnittlich.
Dass die Mittelschicht vor staatlichen Transfers oft kleiner erfasst werde als danach – der Staat die Mitte also ordentlich stützt –, führt sie vor allem auf die Rentner zurück. Die werden zunächst vielfach als „ohne Einkommen“ der Unterschicht zugeordnet, rücken dann aber nach staatlichen Transfers oft auf. Der Effekt: Die Mitte vergrößert sich. „Das ist aber genau genommen ein Versicherungsanspruch, der erworben wurde“, sagt Niehues. Diese Haushalte werden nämlich dann auch zu Recht der Mitte zugeordnet.
Fakt ist: Obwohl sich viele Studien auf dieselbe Basis beziehen – meist sind es Daten aus dem vom DIW erhobenen Sozioökonomischen Panel –, führen sie zu völlig unterschiedlichen Aussagen. Erstaunliche Einigkeit besteht nur in einem Punkt: Für Menschen mit unteren Einkommen ist der Aufstieg in die Mitte zunehmend schwerer. Das belegte bereits eine im Jahr 2012 veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung, viele weitere folgten. „Bei der Durchlässigkeit nach oben besteht daher eindeutig noch Verbesserungspotenzial“, urteilt Niehues.