Stefan Seidler Dänen-Vertreter im Bundestag: Außenseiter mit Ambitionen

Erstmals seit rund 70 Jahren zieht der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) mit dem Abgeordneten Seidler wieder in den Bundestag ein.
Berlin Ein Zimmer. Ein eigenes Zimmer, das ist doch ein Anfang. Stefan Seidler hat anderes erlebt, seit er vor gut acht Wochen in den Deutschen Bundestag gewählt wurde. Der 42-Jährige aus Flensburg hat seitdem in Berlin auf Fluren gesessen, den Laptop vor sich auf den Knien, hat leere Sitzungsräume gekapert, so lange, bis irgendeine Delegation ihn mit den Worten vertrieb, „das geht aber nicht, den Raum haben wir jetzt gemietet.“
Seidler ist ein Einzelkämpfer. Er ist nicht nur der einzige Bundestagsabgeordnete seiner Partei, des Südschleswigschen Wählerverbandes, Vertretung der Friesen und der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein. Er ist überhaupt der erste nach beinahe 70 Jahren – von 1949 bis 1953 gab es schon einmal einen SSW-Abgeordneten.
Nun also residiert er hier. Vierter Stock in einem Bürogebäude des Deutschen Bundestages, Unter den Linden 71. Seidler legt das Jackett ab, rückt die randlose Brille in seinem runden Gesicht zurecht und nimmt auf einem schwarzen Ledersessel am Rande seines Schreibtischs Platz.
Ein bisschen füllig ist er geworden, sagt er und entschuldigt sich. Erst der Wahlkampf, der seine Gewohnheiten veränderte, zum Joggen kam er gar nicht mehr, und dann sei in Berlin so viel zu organisieren gewesen. Da blieb nur noch Zeit für Junkfood.
Zum Glück war da die Bundestagsverwaltung. Wirklich sehr nett die Leute. Ein Starterpaket gab es, mit Laptop, und eine Einweisung, wie das so funktioniert hier, mit dem Drucker und dem Fahrdienst zum Beispiel. Denn eine Fraktion, die ihre neuen Abgeordneten normalerweise an die Hand nimmt, ihnen die Abläufe erklärt, die hat Seidler nicht.
„Arme Schweine“, so nennt der Düsseldorfer Parteienforscher Martin Morlok Abgeordnete wie den Norddeutschen aus Flensburg. Eines von Morloks Spezialgebieten sind fraktionslose Abgeordnete. Die bleiben Außenseiter, sagt der Professor aus Düsseldorf. Sie können keine Gesetzesinitiativen einbringen, dürfen an Ausschüssen zwar teilnehmen, haben aber kein Stimmrecht. Wollen sie eine Anfrage an die Bundesregierung richten, müssen fünf Prozent der Parlamentarier diese unterstützen. Sie bleiben damit Abgeordnete zweiter Klasse, so sein Fazit.
Dialog in kleinem Rahmen
Stimmt, sagt Seidler, „meine Möglichkeiten sind begrenzt“. Aber nichts bewirken? Das werde man noch sehen. Neulich, in der konstituierenden Sitzung des Bundestages, habe er kurz daran gedacht, vielleicht jetzt sein Rederecht zu nutzen.
Sich von seinem blauen Sessel in der letzten Reihe, schräg hinter den Grünen, zu erheben, nach vorn zu gehen, vorbei an den sieben Reihen vor ihm, deren erste vier eine Ablage vor dem Sitz haben, während er seine Aktentasche neben sich auf den Boden stellen muss, um das Wort an alle zu richten. „Aber man muss seine Besuchszeiten kennen“, sagt er und meint damit, dass es klüger sein könnte, den Dialog im kleineren Rahmen zu suchen.

Stefan Seidler im Mai während eines außerordentlichen Landesparteitags zur Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl.
Es ging um die Geschäftsordnung. Zu den Ritualen der ersten Sitzung gehört es, sie zu beschließen. Meistens, in dem man die alte ohne wesentliche Änderungen übernimmt. Seidler würde da schon gerne etwas ändern, wie etwa ihm, dem Fraktionslosen, mehr Rechte einzuräumen. Rumpoltern bringe da aber nichts. Er sei nicht gekommen, um als Nörgler in die Bundestagsgeschichte einzugehen.
Dafür hat er sich gemerkt, was stattdessen die sozialdemokratische Abgeordnete Gabriele Katzmarek sagte: „Die Geschäftsordnung ist ein lebendiges Dokument, das sich den Gegebenheiten des Parlamentarismus anpassen muss“.
Dann fügte sie noch hinzu, „alle Fraktionen sind eingeladen, mitzuarbeiten“, das konnte Seidler auch unterschreiben, wenn sie nur das Wort „Fraktionen“ weggelassen hätte. Denn zu den Gegebenheiten gehört ja, dass er jetzt hier sitzt. Tatsächlich erging inzwischen in der zweiten Bundestagssitzung der Auftrag, die Geschäftsordnung zu reformieren. Ob in Seidlers Sinne, muss sich noch zeigen.
Von der Fünf-Prozent-Hürde ausgenommen
Der Sprung in den Bundestag wäre Seidler nicht gelungen, wäre seine Partei nicht von der Fünf-Prozent-Hürde ausgenommen. Der Status ist ein Erbe der von Kriegen geprägten deutsch-dänischen Beziehungen.
Mit der Bonn-Kopenhagener Erklärung legten beide Seiten fest, dass die Minderheiten, auch die der Deutschen in Dänemark, bestimmte Rechte genießen. Wobei der Erfolg des SSW bei dieser Bundestagswahl kein Selbstläufer war und von der Wahlbeteiligung abhing. 50.000 Stimmen waren nötig, der SSW überzeugte 54.000, obwohl die dänische Minderheit nur rund 50.000 Mitglieder hat, von denen nicht alle wahlberechtigt sind.
Wie erklärt Seidler diesen Erfolg? Mit der konsequenten Regionalpolitik seiner Partei, die in Flensburg schon einmal den Oberbürgermeister stellte und in Kommunalparlamenten die Mehrheit innehat, etwa auf Helgoland. Wie könne es sein, dass Bayern mit 325 Initiativen im Bundesverkehrswegeplan vertreten sei, Schleswig Holstein aber nur mit 22?
Dass sich die Bahn zwischen Flensburg und Hamburg über eine Brücke von 1913 quält und auf der wichtigsten Bahnstrecke seines Landes doppelt so lange brauche wie von Hamburg nach Berlin? Oder dass Schleswig-Holstein die höchsten Strompreise habe, aber die Energiewende mit dem konsequenten Ausbau der Windenergie vorangetrieben habe und nun billig Strom in andere Bundesländer liefere? Solche Themen hätten die Menschen offenbar überzeugt.

Deutschland und sein Nachbar im Norden pflegen traditionell enge Beziehungen, die dänische Minderheit in Deutschland hat eine eigene politische Stimme in Berlin.
Wer genau der dänischen Minderheit angehört, ist nicht klar definiert. Es ist auch eine Frage der persönlichen Entscheidung. Für wen sein Herz schlägt? Schwierig, das sei wie die Frage, wen liebe man mehr, Mutter oder Vater. Seidler hat deutsch-dänische Eltern, ist mit einer Dänin verheiratet, die auf der dänischen Seite der Grenze als Oberstudienrätin arbeitet, er besitzt beide Pässe. Er selbst ist auf der deutschen Seite in eine dänische Schule gegangen. Mit ihren beiden Töchtern spricht das Paar zu Hause Dänisch.
Als Student hat Seidler schon einmal bei einer Wahl kandidiert: für das linksliberale Radikale Venstre, der Partei der dänischen EU-Kommissarin Margrethe Vestager. Mit ihr wollte er in den Kopenhagener Folketing einziehen. Er scheiterte.
Diesmal sei das Medieninteresse an seiner Person in den ersten Wochen nach der Wahl ungeheuerlich gewesen. Nicht nur die Deutschen fragten nach ihm, die dänische Presse feierte seinen Einzug ins deutsche Parlament wie einen Länderspielsieg – die Erwartungen sind hoch.
Seidler war im Kieler Kabinett Koordinator für deutsch-dänische Zusammenarbeit, seine Parteifreundin Anke Spoorendonk war 2012 in der Kieler Landesregierung Ministerin für Justiz, Kultur und Europa, als der SSW mit SPD und Grünen eine Koalition einging.
Er will dahin, wo der Flurfunk funktioniert
Die Wand hinter Seidlers Bürosessel ist weiß und leer, nur zwei rote Dübel sind geblieben von seiner Vorgängerin, einer Unionsabgeordneten, die das Büro nach der Wahlschlappe ihrer Partei räumen musste.
Der Papierkorb sieht unbenutzt aus, im Posteingangskorb liegt ein einziges Schreiben, aus dem Schreibtisch hängt ein loses Lan-Kabel. Seidler lacht. Sagt, „brauche ich nicht, ich arbeite mobil.“ Er wolle auch gar nicht hier bleiben, sondern noch einmal umziehen, gern ins Jakob-Kaiser-Haus, auf jeden Fall näher ran an den Bundestag. Wenn die Glocke zur Abstimmung ruft, muss er schnell zur Stelle sein, außerdem will er dahin, wo der Flurfunk funktioniert.
Erst wenn er wirklich angekommen ist, werde er sich einrichten, bestimmt einen Ständer mit dem Danebrog – der Nationalflagge – aufstellen und sich vielleicht eine dänische Designerlampe anschaffen. Wobei, man möge ihn nicht missverstehen. Er sitze hier schließlich nicht für Dänemark, sondern für alle Menschen in seiner Region.
Den Sondierern der Ampelkoalition hat er schon die Knackpunkte seiner Partei übermittelt, die für seine Zustimmung zum Kanzler Olaf Scholz unabdingbar seien. Seine Themen sind Verkehr und Energie, ganz oben aber stehen die Rechte der nationalen Minderheiten, nicht nur die der Dänen und der Friesen, sondern auch die der Sinti und Roma und der Sorben.
„Minderheitenrechte, die dümpeln doch seit Jahren zwischen Bundestag und Bundesrat rum, die müssen ins Grundgesetz“, das sei ihm wichtig, und sie wüssten es, der Kubicki, der Scholz und auch der Robert, gemeint ist Habeck, gegen den er im gleichen Wahlkreis antrat. Den Robert, den duzt er, wie man das in Skandinavien tut. Immerhin sprächen sie beide dänisch, würden das auch hier tun, wenn sie sich über den Weg liefen.
Er will unabhängig bleiben
Sie alle hätten den Kontakt zu ihm gesucht, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale, auch die Union. Es gab Angebote, in anderen Fraktionen mitzuarbeiten. Wenn es mal eng wird, könnte es ja seine Stimme sein, die zählt.
Seidler hat stets abgelehnt. Am Ende würden sie ihm noch die Redezeit diktieren. Er will unabhängig bleiben. Ja, mitarbeiten möchte er, konstruktiv mit allen demokratischen Parteien, wobei er die AfD ausschließt.
Natürlich weiß Seidler um Professor Martin Morloks Meinung, weiß, dass sich der Bundestag Kraft der Geschäftsordnungsautonomie als Fraktionsparlament organisiert hat. Das sei auch sinnvoll, erklärt Morlok, man könne sich nicht auf allen Gebieten auskennen, „da muss ich mich auf zwei, drei Arbeitsfelder spezialisieren, zusammengeführt wird das dann in der Fraktion.“
Die entsendet ihre Spezialisten in die Ausschüsse, wo die Beschlüsse des Bundestages vorbereitet, Gesetzesentwürfe erarbeitet und Experten angehört werden. Für die Meinungsbildung sind sie essenziell. Ausgerechnet dort wird Seidler nur Ohrenzeuge sein.
Dass Seidler aber niemand ist, der sich so einfach damit zufriedengibt, hat er schon im Schleswig-Holsteinischen Wahlkampf bewiesen. Als sie ihn auf einer Veranstaltung in seinem Wahlkreis Flensburg-Schleswig in der zweiten Reihe platzieren wollten, begehrte er auf. Jetzt sagt er, „ich will ein Antragsrecht, ich will in Ausschüssen vernünftig mitarbeiten.“
Ob ihm der Name Thomas Wüppesahl geläufig sei? Er muss kurz nachdenken, dann fällt es ihm ein. Wüppesahl saß für die Grünen im Bundestag und wurde 1988 aus deren Fraktion ausgeschlossen.
Wüppesahl war es dann, der den Anspruch, als Fraktionsloser überhaupt in Ausschüssen mitarbeiten zu dürfen, wenn auch ohne Stimmrecht, vor dem Bundesverfassungsgericht durchsetzte. Die Rechte der Abgeordneten durften danach eingeschränkt, aber nicht grundsätzlich entzogen werden.
Wir sind keine Klamaukpartei, wir sind auch nicht so stark, dass wir uns zu jedem Thema auslassen. Stefan Seidler
Im Bundestag machte sich Wüppesahl einen Namen als einer der fleißigsten Abgeordneten in dessen Geschichte. Von seinem Antragsrecht machte er rege Gebrauch: Zur zweiten Lesung des Gesundheitsreformgesetzes legte er im Jahr 1988 70 Änderungsanträge vor – alle wurden abgelehnt.
19 Monate später brachte er 500 Anträge zur zweiten Lesung des Gesetzes über den Vertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der BRD mit der DDR ein. Seine Forderung, über diese Änderungen einzeln namentlich abzustimmen, wurde mit Gelächter quittiert.
Seidler kommentiert das auf Englisch. Er wolle nicht „pain in the ass“ sein, was man vornehm mit Nervensäge übersetzen kann. Aber mit Gerichtsentscheidungen kennt sich seine Partei auch aus.
Vertreter einer nationalen Minderheit
So habe sie ihre Sonderrechte als anerkannte Minderheit 2013 vor dem Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgericht gegen eine Klage der Jungen Union erfolgreich verteidigt. „Wir sind keine Klamaukpartei, wir sind auch nicht so stark, dass wir uns zu jedem Thema auslassen“, aber ihre Rechte, die würden sie nicht am Fraktionsstatus festmachen, sondern an ihrem Status als Vertreter einer nationalen Minderheit.
Dieser Status erfahre gerade weltweite Aufmerksamkeit. Egal ob in Kanada, in den USA oder in der Türkei, überall gibt es Minderheiten, die genau beobachten und kommentieren. Und es werde sehr positiv aufgenommen, wie wir das hier in Deutschland regeln. Da sollte man stolz darauf sein, schließt er.
Stefan Seidler jedenfalls ist stolz. Darauf, dass Dänemarks Kronprinz ihm kürzlich beim Empfang für die dänische Königin in Berlin zugezwinkert hat und dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Beisein der Königin seine Mitgliedschaft im deutschen Bundestag hervorhob, der dänische Außenminister mit ihm sprach. Er glaubt eigentlich nicht, dass man ihn in den kommenden vier Jahren übersehen wird.
Und das mit dem Zimmer, das wird schon noch. Jetzt muss er erst einmal sehen, wie er das mit dem Julefrokost in Berlin hinbekommen soll, dem Büfett, wie es in Dänemark in der Adventszeit üblich ist.
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