Studie 59 Milliarden Euro für die Digitalisierung der Gesundheit

Krankenhäuser gehören zu den größten Digitalisierungs-Baustellen.
Berlin Kontaktzettel, faxende Gesundheitsämter und fehlendes Internet in Pflegeheimen haben während der Coronakrise gezeigt, wie rückständig das deutsche Gesundheitswesen ist. Es für die Zukunft zu digitalisieren, kostet Milliarden – und wird eine der zentralen Herausforderungen der neuen Bundesregierung. Laut einer Studie der Beratungsgesellschaft Roland Berger, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt, werden die Ausgaben für digitale Produkte im Gesundheitssektor massiv ansteigen.
Liegt ihr Anteil in Deutschland bislang bei unter fünf Prozent an den Gesamtausgaben, gehen Experten davon aus, dass dieser im Jahr 2026 auf zwölf Prozent steigen wird. Die Zahlen beruhen auf einer internationalen Umfrage zu den zukünftigen Gesundheitsausgaben unter 350 Experten. Ein Anstieg auf zwölf Prozent würde laut Studie Kosten in Höhe von 59 Milliarden Euro entsprechen.
„Das Gesundheitswesen steht vor einem gewaltigen Umbruch“, sagt Karsten Neumann, Partner bei Roland Berger und Mitautor der Studie. Die größten Treiber sieht Neumann in der Umstellung von Praxen, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen auf digitale Abläufe. Trotz der Defizite ist das Gesundheitswesen in dieser Legislatur digitaler geworden als in den vergangene zwei Dekaden zusammen.
Die elektronische Patientenakte und das E-Rezept werden schrittweise eingeführt, die Krankenkassen erstatten die App auf Rezept und Krankenhäuser sowie Gesundheitsämter erhalten Milliarden für die Digitalisierung. „Patientenakten, die Kommunikation von Arzt und Patient sowie der Austausch von Informationen zwischen Krankenkassen, Praxen und Krankenhäusern werden fast vollständig digital ablaufen“, sagt Neumann.
Ein weiterer Treiber seien Angebote rund um Prävention und Verhaltensbeeinflussung. Die digitale Beratung chronisch Kranker gehört zu jenen Bereichen, in denen die für die Studie befragten Experten den größten Innovationssprung bis 2026 erwarten – hinter Künstlicher Intelligenz, Sensoren für kontinuierliches Monitoring sowie Zell- und Gentherapien.
Klamme Kassen als Digitalisierungshindernis?
Mit Blick auf die maroden Kassenfinanzen stellt sich allerdings die Frage, wo das viele Geld für die Digitalisierung herkommen soll. „Es ist wichtig, dass sich die Politik und die Krankenkassen trotz ihres milliardenschweren Defizits zu diesen Investitionen bekennen“, sagt Neumann.
Die Gefahr sei groß, dass nach der Bundestagswahl die Mentalität einkehrt, sich Digitalisierung nicht mehr leisten zu können. „Genau das Gegenteil ist aber der Fall: Das Gesundheitssystem muss sich die Digitalisierung leisten, um die Effizienzpotenziale zu heben.“ Immerhin erwarten 33 Prozent der in der Studie befragten Experten, dass die Digitalisierung die Kosten im Gesundheitswesen langfristig senkt, während 42 Prozent von einer Steigerung ausgehen.
In Deutschland fordern die Kassen seit geraumer Zeit, die Kosten zu bremsen. „Wir müssen über angemessene Preisfindungsprozesse bei Innovation diskutieren, zum Beispiel bei Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGa) und neuen Arzneimitteln“, sagt Daniel Cardinal, Leiter Bereich Versorgungsinnovationen der Techniker Krankenkasse.
Mit den DiGa erstatten die Kassen seit rund einem Jahr Apps auf Rezept, deren Preise die Hersteller im ersten Jahr frei festlegen können, was bei Kassen für Unverständnis sorgt. Generell hat Cardinal allerdings nicht die Sorge, dass die angespannten Finanzen der Kassen die Digitalisierung ausbremst. Im Gegenteil: Sie sei essenzieller Bestandteil notwendiger Reformen.
„Über Vorhaben wie etwa der elektronischen Patientenakte ist viel Tempo in die Transformation gekommen“, sagt Cardinal. „Dieses Tempo muss beibehalten werden.“ Für die Digitalisierung müssen nicht nur Milliardeninvestitionen mobilisiert werden – es braucht auch den politischen Willen dafür. Der ist im Gesundheitswesen nicht selbstverständlich.
Erst Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schaffte es mit zahlreichen Gesetzen, die digitalisierungsmüde Branche aufzuschrecken. „Die zentrale Aufgabe der neuen Bundesregierung wird es sein, das Tempo bei der Digitalisierung aufrechtzuerhalten“, sagt deswegen auch Oliver Rong, Partner bei Roland Berger und Mitautor der Studie. Es brauche „Schwung und viel Überzeugungsarbeit beim Patienten, Ärzten und Versicherungen“, um die Digitalisierung voranzutreiben, sagt Rong.
Die geschaffenen Angebote würden noch viel zu wenig von Patienten genutzt. Auch sollte die neue Bundesregierung nicht davor zurückschrecken, weiterhin die Einführung von digitalen Angeboten an gesetzliche Fristen zu knüpfen, statt auf Freiwilligkeit zu bauen. Die Bundesregierung machte beispielsweise die Einführung der elektronischen Patientenakte verbindlich für Krankenkassen, Ärzte und Krankenhäuser, denen ansonsten Sanktionszahlungen drohen. „Besonders in der Ärzteschaft gibt es noch große Disruptionsängste, die überwunden werden müssen.“
Heikel wäre es seiner Ansicht nach, wenn die neue Regierung den eingeschlagenen Weg hinterfrage und Projekte stoppe. „Das wäre ein fatales Signal für den Unternehmensstandort Deutschland, denn die Gesundheitsindustrie ist darauf angewiesen, dass ihre modernen Produkte auch auf dem Heimatmarkt angewendet werden“, sagt Rong. „Sonst werden die Innovationen auf diesem Feld noch stärker aus den USA und China kommen.“
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