Studie Dem Osten der Republik droht ein weiterer Abstieg

Volkswagen stellt sein Werk in der sächsischen Stadt derzeit auf die Mobilitätswende ein, ab Ende 2020 sollen dort nur noch Elektroautos vom Band rollen.
Berlin Die Zukunft wird in Zwickau gebaut. Volkswagen stellt sein Werk in der sächsischen Stadt derzeit auf die Mobilitätswende ein, ab Ende 2020 sollen dort nur noch Elektroautos vom Band rollen. Mitarbeiter werden geschult, neue Montageroboter angeschafft, rund eine Milliarde Euro investiert der Konzern in den Umbau.
Die Kapazität soll so von 1.350 auf 1.500 Fahrzeuge pro Tag erhöht werden. Man baue Zwickau „zum größten und leistungsfähigsten E-Auto-Standort in Europa“ um, freute sich VW-Chef Herbert Diess beim Werksbesuch Anfang Mai. Von Investitionen wie diesen, die die Produktivität erhöhen, könnten die ostdeutschen Bundesländer mehr gebrauchen. Denn sonst droht sich das Wohlstandsgefälle zum Rest der Republik weiter zu vergrößern.
Aber auch im Saarland oder in Rheinland-Pfalz wird der Lebensstandard sinken, wenn es nicht gelingt, das wegen der Alterung der Gesellschaft sinkende Arbeitskräfteangebot durch eine höhere Produktivität wettzumachen. Das zeigt eine Studie des Münchener Ifo-Instituts und der Bertelsmann Stiftung. Die Projektion, die bis ins Jahr 2035 reicht, liegt dem Handelsblatt exklusiv vor.
Weil die Babyboomer in Rente gehen und die Erwerbsquote sinkt, müssen künftig weniger Arbeitnehmer immer mehr erwirtschaften – also produktiver werden. „Ein wesentlicher Schlüssel für den Erhalt von Wachstum und Wohlstand ist die Produktivität“, sagt Bertelsmann-Wirtschaftsexperte und Mitautor Dominic Ponattu. Diese so stark zu steigern, dass sich der Rückgang der Erwerbstätigen auffangen lasse, werde „gerade in ländlichen Regionen eine enorme Kraftanstrengung“.
Mehr als das: Um das derzeitige Wachstum trotz rückläufiger Erwerbsquoten aufrechtzuerhalten, müssten Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und das Saarland ihre Innovationskraft – gemessen an der sogenannten Totalen Faktorproduktivität – bis 2035 mehr als verdoppeln.
Um auch nur den Lebensstandard der strukturschwachen Westländer zu erreichen, müsste die Wirtschaft in Ostdeutschland teils doppelt so stark wachsen wie bisher. In Mecklenburg-Vorpommern müsste das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf um im Schnitt zwei Prozent zusätzlich wachsen.
Dass der Osten weiter zurückzufallen droht, birgt politischen Sprengstoff: In Brandenburg, Sachsen und Thüringen werden im September und Oktober die Landesparlamente neu gewählt. In einer Insa-Umfrage für die „Bild“-Zeitung war die AfD vergangene Woche mit 25 Prozent erstmals stärkste Kraft in Sachsen – einen Prozentpunkt vor der CDU.
Nachrichten über den abgehängten Osten kommen da nicht gut an. So hatte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) im März „empört“ auf eine Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) reagiert, in der es ebenfalls um Produktivität und Wirtschaftskraft ging. Die Wissenschaftler hatten – überspitzt formuliert – empfohlen, ländliche Regionen im Osten zu vernachlässigen und die Förderung auf die Ballungszentren zu konzentrieren.
Laut der Studie von Ifo und Bertelsmann lag der Lebensstandard – gemessen als preisbereinigtes BIP pro Kopf – in den ostdeutschen Flächenländern 2017 um rund 29 Prozent unter dem gesamtdeutschen Niveau. Von einer Angleichung der Lebensverhältnisse könne also auch fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung keine Rede sein.
Ein Grund für die schwächere Wirtschaftsentwicklung ist der starke Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Sie schrumpfte zwischen 1996 und 2017 in Ostdeutschland um fast 15 Prozent, im Westen legte sie um 1,4 Prozent zu. Auch in der Projektion bis 2035 werden Demografie und Abwanderung den Osten stärker treffen als den Westen.
Die Bundesregierung muss einen Vorsprung Ost im Bereich Digitalisierung organisieren. Manuela Schwesig - Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommern
Und weil die Zahl der Erwerbstätigen voraussichtlich noch stärker sinkt als die der Einwohner insgesamt, muss die Produktivität wachsen, um den Wohlstand zu halten. Das aber wird nicht einfach. Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, sieht neben der Demografie auch auf der Angebotsseite Ursachen für die schwache Produktivität: die Branchenstruktur, die Produktpalette, die Unternehmensgröße, aber auch das Fehlen von Netzwerken zwischen Unternehmen untereinander oder Unternehmen und Wissenschaft.
„Am wirksamsten dürfte eine Kombination aus Investitionen in Hochschulen, Forschungscluster sowie in die Verkehrs- und Breitbandinfrastruktur sein, ergänzt um gezielte Clusterstrategien“, empfiehlt Hüther. Die Forscher gehen allerdings davon aus, dass nicht nur im Osten, sondern in Deutschland insgesamt der Produktivitätsanstieg im Projektionszeitraum nicht mehr ausreichen wird, um den Lebensstandard im gleichen Maße steigen zu lassen wie in der Vergangenheit.
Dieser Anstieg liegt bundesweit im langjährigen Durchschnitt bei rund einem Prozent. Soll der Lebensstandard weiter steigen, müsste die Produktivität bis 2035 im Jahresdurchschnitt um 0,2 Prozentpunkte stärker wachsen. In Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Thüringen und dem Saarland rangiert diese „Produktivitätslücke“ zwischen 0,4 und 0,6 Prozentpunkten, am größten ist sie in Mecklenburg-Vorpommern mit 0,8 Prozentpunkten.
Aber auch ein wirtschaftsstarkes Land wie Bayern müsste deutliche Anstrengungen unternehmen, um seinen Bürgern den gewohnten Anstieg des Lebensstandards garantieren zu können. Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) verwahrt sich denn auch dagegen, die Produktivitätslücke allein als ostdeutsches Problem zu sehen (siehe Interview).
Auch das Ifo geht nicht von einem Zurückfallen des Ostens insgesamt aus, wohl aber von dem einiger ostdeutscher Länder. So erwarten die Forscher, dass die Wirtschaftsleistung in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt wegen der demografischen Bedingungen zum Ende des Projektionszeitraums nicht mehr wachsen, sondern sinken wird.
Halbierung der Wachstumsrate
Gleiches trifft auch auf das Saarland zu. In Deutschland insgesamt führt das Zusammenspiel aus Alterung und unzureichendem Produktivitätsfortschritt dazu, dass sich das jährliche Wirtschaftswachstum bis 2035 auf rund 0,6 Prozent ungefähr halbieren würde. Gleiches gilt für den Zuwachs beim Lebensstandard, also das BIP pro Kopf.
„Die Ergebnisse dieser Arbeit sind auf den ersten Blick entmutigend, sollten jedoch zum Anlass genommen werden, wirtschaftspolitisch gegenzusteuern“, schreiben die Autoren der Studie. Einerseits gehe es darum, die Erwerbsbeteiligung weiter zu erhöhen, auch wenn die Bundesländer schon heute hohe Quoten verzeichneten. Das in diesem Monat vom Bundestag verabschiedete Fachkräfteeinwanderungsgesetz könnte hier Abhilfe schaffen.
Auf der anderen Seite müssten aber auch Schritte unternommen werden, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. Notwendig seien Investitionen in die Weiterbildung der Beschäftigten wie in neue Maschinen und Ausrüstung, um den technischen Fortschritt voranzutreiben. Gerade in strukturschwachen Regionen könne auch eine bessere Vernetzung von Unternehmen und Hochschulen die Innovationsfähigkeit steigern.
Um die Ziele zu erreichen, „ist eine stärkere Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf eine Wachstumsorientierung erforderlich“, heißt es in der Studie weiter. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) sieht hier auch den Bund in der Pflicht: „Die Bundesregierung muss einen Vorsprung Ost im Bereich Digitalisierung organisieren“ und flächendeckend schnelles Internet und das 5G-Mobilfunknetz organisieren.
„Außerdem brauchen wir nach Auslaufen des Solidarpakts eine besondere Förderung für strukturschwache Regionen, künftig in Ost und West“, sagte Schwesig dem Handelsblatt. Auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, geht nicht mehr allein von einem Ost-West-Gefälle aus: Deutschland erlebe ein zunehmendes Süd-Nord- und Stadt-Land-Gefälle.
Viele strukturschwache Regionen steckten in einem Teufelskreis: Junge, motivierte und gut qualifizierte Menschen wanderten ab, weil sie kaum Perspektiven hätten. Und Unternehmen könnten nicht wachsen, weil ebendiese jungen Menschen fehlten. „Es ist Aufgabe der Politik, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, indem sie eine Investitionsoffensive für strukturschwache Regionen anstößt“, fordert Fratzscher.
Nötig seien eine Entschuldung von Kommunen, ein solidarischerer Bund-Länder-Finanzausgleich, eine leistungsfähige Infrastruktur „an jeder Milchkanne“ und eine mutige Industriepolitik. Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr, warnt aber vor einem neuen Subventionswettlauf für strukturschwache Regionen: „Trotz historisch einzigartig hoher staatlicher West-Ost-Transfers seit der Wiedervereinigung ist es in weiten Teilen Ostdeutschland nicht zu den prophezeiten wirtschaftlich blühenden Landschaften gekommen“, sagt Felbermayr.
Ländliche Räume mit Geld zu fluten könne zu einer gefährlichen „Subventionsmentalität“ führen, die Kreativität und Eigeninitiative hemme. Der Ökonom empfiehlt den Ausbau leistungsfähiger digitaler Infrastruktur auch und gerade in strukturschwachen Regionen. Dann könnten diese Regionen Produktionskapazitäten zurückgewinnen, die zuvor aus Kostengründen ins Ausland verlagert worden waren.
Auch werde der Anstieg der Bodenpreise und Mieten in den Städten automatisch zu einer Stärkung der ländlichen Räume führen. Und was die Unterschiede bei der Arbeitsproduktivität zwischen den Regionen angehe, liege Deutschland im Industrieländervergleich nur im Mittelfeld, beschwichtigt der Ökonom.
Mehr: Warum Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee den Wettbewerb aufnehmen will.
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