Technologischer Fortschritt Pandemie könnte Produktivitätsschub auslösen

Roboter stehen bei der Hannover Messe am Stand von Kuka.
Berlin Vor 35 Jahren bemerkte der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solow süffisant: „Das Computerzeitalter ist überall zu sehen, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken.“ An dieser deprimierenden Feststellung hat sich bis heute wenig geändert. In Deutschland lag das Produktivitätswachstum in den vergangenen Jahren wie in den meisten anderen europäischen Ländern bei unter einem Prozent.
Glaubt man einer neuen Studie des McKinsey Global Instituts (MGI), könnte die Corona-Pandemie das jetzt ändern. Sowohl in Europa als auch in den USA hätten die Unternehmen ihre Prozesse und Geschäftsmodelle um bis zu 20- bis 25-mal schneller digitalisiert und automatisiert, als sie das vor der Pandemie für möglich gehalten hätten, schreibt die Denkfabrik der gleichnamigen Unternehmensberatung. Das MGI stützt sich bei seiner Studie auf Daten von 5500 Unternehmen aus den USA und den sechs größten Volkswirtschaften Europas. Der Report liegt dem Handelsblatt exklusiv vor.
„Wenn Unternehmen solche Digitalisierungs- und Automatisierungsprogramme ausweiten, die Agilität erhöhen, neue Geschäftsmodelle realisieren und eine robuste Nachfrage herrscht, wird sich das Produktivitätswachstum bis 2024 um jährlich etwa einen Prozentpunkt beschleunigen“, sagt Jan Mischke, Partner beim McKinsey Global Institute und Co-Autor der Studie. Das entspräche mehr als dem doppelten Wachstum, das es in Deutschland seit der Finanzkrise gegeben hat. Ein derartiges Produktivitätswachstum könne das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in Deutschland um 2000 Euro zusätzlich zum erwarteten Trendwachstum erhöhen und entsprechend auch Reallöhne und Haushaltseinkommen stärken.
Etwas skeptischer ist Christoph Schröder, Ökonom beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. „Während der Pandemie ist die Arbeitsproduktivität erst mal zurückgegangen“, konstatiert er. Sowohl der Output als auch das Arbeitsvolumen seien gesunken. Eine leichte Erholung sei erst im vierten Quartal des vergangenen Jahres erkennbar. Auch der langfristige Trend ist eher enttäuschend. Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums hat sich der Produktivitätsfortschritt für den Euro-Raum als Ganzes zwischen 1999 und 2019 „spürbar“ verlangsamt. Deutschland kam in dem Zeitraum auf ein mageres Plus von 0,6 Prozent, gemessen am realen BIP je Erwerbstätigen.
Große Unternehmen nutzen ihre Potenziale besser
Offensichtlich haben die Unternehmen die Spielräume, die sich durch die Digitalisierung ergeben, bislang bei Weitem nicht ausgenutzt. Das MGI sieht das größte Potenzial für Produktivitätsbeschleunigungen im Gesundheitswesen (etwa durch die Verbreitung der Telemedizin), im Baugewerbe (durch die beschleunigte Einführung digitaler und industrialisierter Methoden), in der Informations- und Kommunikationstechnologie (durch eine erhöhte Nachfrage nach und Skalierung von digitalen Werkzeugen und Dienstleistungen) sowie im Einzelhandel (vor allem durch den wachsenden E-Commerce). In diesen Sektoren sei sogar ein zusätzliches Produktivitätswachstum von bis zu zwei Prozentpunkten möglich.
Allerdings wird die Produktivitätsentwicklung nicht überall gleichmäßig ablaufen. Die MGI-Analysen deuten darauf hin, dass Fortschritte bislang vor allem bei großen Unternehmen mit hoher Rentabilität, sogenannten Superstar-Firmen, gemacht wurden. Diese Unternehmen waren bereits vor der Krise führend und haben viel Geld in Forschung und Entwicklung investiert, deutlich mehr als kleinere Firmen. „Sollte sich dieses Ungleichgewicht bestätigen und anhalten, könnte eine große Kluft entstehen“, warnte Eckart Windhagen, Seniorpartner im Frankfurter Büro von McKinsey und Co-Autor der Studie. Er weist allerdings darauf hin, dass Deutschland von dieser Ungleichheit nicht so stark betroffen sein könnte wie andere Länder. Hierzulande sei die Dynamik bei kleineren Unternehmen gemessen an der Zahl der Pleiten und Neugründungen weniger stark zurückgegangen.
Deutschland muss die „Bremsklötze“ lösen
Dennoch gebe es gerade auch in Deutschland Handlungsbedarf: „Wir müssen in Deutschland die Bremsklötze für den Wandel in Gesellschaft, Politik und Unternehmen lösen, um die Möglichkeiten der Digitalisierung besser zu nutzen und so die Produktivität zu steigern“, fordert MGI-Experte Windhagen. Auch Ökonom Schröder vom IW sieht kurzfristig durchaus Handlungsspielraum für die Wirtschaftspolitik. Die Bildungsausfälle während der Pandemie müssten zügig ausgeglichen werden, außerdem könne die Politik für einen schnelleren Einsatz des neuen Mobilfunkstandards 5G sorgen. „Ganz wichtig für einen Innovationsschub in der Wirtschaft ist, dass die Neugründungen in der Coronakrise Liquiditätshilfen bekommen“, sagt Schröder.
Mehr staatliche Unterstützung brauche aber auch die Nachfrageseite. „Wie unsere Volkswirtschaften aus der Krise kommen, hängt davon ab, ob die Nachfrage stark genug ist, um die Wirtschaft anzukurbeln“, sagt Windhagen. Bleibt diese Anschubhilfe aus, könnte der Produktivitätsschub für viele Beschäftigte nämlich auch nach hinten losgehen. „Ohne zusätzliche Maßnahmen des Staates auf der Nachfrageseite könnten wir bei steigender Produktivität Probleme auf dem Arbeitsmarkt bekommen“, warnt sein Kollege Mischke.
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