Thomas Kemmerich Tabubruch in Thüringen: FDP stellt Regierungschef von Höckes Gnaden
„Ich bin anti-AfD, ich bin anti-Höcke“
Berlin Christian Lindner war die Anspannung anzumerken, als er sich am späten Mittwochnachmittag in der Berliner FDP-Zentrale vor die Kameras stellte. Während der Parteichef zum Statement ansetzte, zog er noch einmal kurz sein Handy aus der Tasche und tippte darauf herum. Lindner formulierte mit Bedacht, Fragen ließ er nicht zu.
Denn der Vorgang, den er erklären musste, stellt einen politischen Tabubruch dar: Drei Stunden zuvor hatte der Thüringer Landtag den dortigen FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich im dritten Wahlgang zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Mit den Stimmen der AfD, die in dem ostdeutschen Bundesland von dem Rechtsaußen-Politiker Björn Höcke angeführt wird.
Kemmerich sei als „Kandidat der Mitte“ gegen einen AfD-Bewerber und den bisherigen Amtsinhaber Bodo Ramelow von der Linken angetreten, sagte Lindner. „Es ist nachvollziehbar, dass die Union ihn unterstützt hat.“ Die Unterstützung von der AfD sei dagegen überraschend, habe nichts mit inhaltlichen Übereinstimmungen zu tun, sondern sei „rein taktisch motiviert“.
Lindner machte deutlich: Eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit der AfD werde es nicht geben, solange er Parteivorsitzender sei. „Wir unterstützen die Ziele und Werte dieser Partei nicht“, sagte Lindner. Das habe auch Kemmerich in einer eilig anberaumten Telefonschalte der Parteiführung deutlich gemacht. Allerdings: „Wer unseren Kandidaten in geheimer Wahl unterstützt, liegt nicht in unserer Macht.“
So einfach ist es aber nicht, zumindest aus Sicht der anderen Parteien. Kemmerich könnte den unverhofften Ministerpräsidentenposten wieder verlieren, ehe er überhaupt eine Regierung gebildet hat. Lindner rief Union, SPD und Grüne zu einer Kooperation mit Kemmerich auf. Doch weder SPD noch Grüne wollen mit Kemmerich zusammenarbeiten.
Und auch die Union sieht keine Grundlage für eine stabile Regierung. „Das Beste für Thüringen wären Neuwahlen“, sagte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak. Auf Twitter teilte Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer mit, das CDU-Präsidium sei einstimmig ihrer Linie gefolgt: „Keine CDU-Minister in einem 'Kabinett Kemmerich', keine Zusammenarbeit mit der AfD. Am besten sollten die Wählerinnen und Wähler in Thüringen erneut die Wahl haben.“
Trotz der Forderungen der Bundesspitzen hat sich die CDU-Fraktion in Thüringen dagegen ausgesprochen. „Wir sehen unsere Verantwortung darin, Stillstand und Neuwahlen zu vermeiden“, erklärte ein Sprecher der Fraktion am Mittwoch.
FDP-Chef Lindner wiederum schätzt die Lage realistisch ein: „Sollten sich Union, SPD und Grüne einer Kooperation mit der neuen Regierung aber fundamental verweigern, dann wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus meiner Sicht auch nötig.“ Die Thüringer müssen womöglich nochmals an die Urnen.
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Der politische Schaden ist aber viel größer als eine gescheiterte Regierungsbildung. Das Beben von Erfurt geschah um 13.28 Uhr, als Kemmerich im dritten Wahlgang zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Der FDP-Kandidat bekam 45 Stimmen, der bisher mit einem rot-rot-grünen Bündnis regierende Ramelow 44 Stimmen. Schnell war klar: Kemmerich wurde nicht nur mit der Unterstützung seiner kleinen FDP-Fraktion und der Union ins Amt gehievt, sondern auch von der AfD.
Kemmerich bemühte sich um Klarstellungen: „Die Brandmauern gegenüber der AfD“ würden bestehen bleiben. Er sei „ein erbitterter Gegner von allem, was nur einen Hauch von Radikalismus oder Faschismus aufweist“. Er sei ein „Anti-Höcke“. Der Thüringer AfD-Chef gründete einst den rechtsnationalen „Flügel“ der Partei, der vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall im Bereich Rechtsextremismus eingestuft wird.
Die Vorgänge in Thüringen seien „ein Tabubruch in der Geschichte der politischen Demokratie in der Bundesrepublik“, sagte Vizekanzler Olaf Scholz (SPD). „Das hat Auswirkungen weit über Thüringen hinaus.“ SPD-Chef Norbert Walter-Borjans schrieb auf Twitter: „Dass die Liberalen den Strohmann für den Griff der Rechtsextremisten zur Macht geben, ist ein Skandal erster Güte. Da kann sich niemand in den Berliner Parteizentralen wegschleichen.“
Die Grünen bezeichneten die Ministerpräsidenten-Wahl von Kemmerich mit Stimmen der AfD als „Kulturbruch“. In einer gemeinsamen Erklärung der Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie den Fraktionschefs Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter hieß es: „Wir erwarten von Thomas Kemmerich, dass er das Amt unverzüglich niederlegt.“
Hennig-Wellsow: „Das hat nichts mit Demokratie zu tun“
Der aus Erfurt stammende SPD-Politiker Carsten Schneider warf CDU und FDP vor, sie hätten „der AfD die Gelegenheit geboten, Steigbügelhalter für einen Ministerpräsidenten zu werden“. Das sei „eine schwere Bürde“ für CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und FDP-Chef Lindner, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion dem Handelsblatt. „Deren Beteuerungen gegen die Zusammenarbeit mit den Feinden der Demokratie“ seien damit „als hohles Gerede entlarvt“ worden. „Auf CDU und FDP ist kein Verlass, wenn es darauf ankommt.“
Auch in Teilen der Union herrscht Fassungslosigkeit. „Dass die FDP die AfD als Steigbügelhalter akzeptiert, ist beschämend und eine Zäsur in der deutschen Parteien- und Parlamentsgeschichte“, sagte der Thüringer CDU-Bundestagsabgeordnete Tankred Schipanski dem Handelsblatt. Auch mit seinen Thüringer Parteifreunden ging Schipanski fast ebenso hart ins Gericht. Die Fraktionen von FDP und CDU im Thüringer Landtag seien der AfD in die „Falle“ gegangen. „Der Wählerwille wird völlig auf den Kopf gestellt, indem eine Fünf-Prozent-Partei einen Regierungschef stellt.“
Keine Stimmen für den AfD-Kandidaten
Eine Zusammenarbeit mit Kemmerich darf auch für Schipanski keine Option sein: „Sollte die CDU Thüringen sich in einer Regierung unter Kemmerich engagieren, wird der Makel dieser Wahl mithilfe der AfD auch an ihr kleben, und sie verlöre weiter an Glaubwürdigkeit.“ CDU-Generalsekretär Ziemiak räumte ein, dass Abgeordnete der Union billigend in Kauf genommen hätten, einen Ministerpräsidenten auch mit den „Stimmen von Nazis“ aus der AfD zu wählen.
Thüringens CDU-Landeschef Mike Mohring verteidigte den Ausgang der Wahl beim Verlassen des Erfurter Plenarsaales: Die CDU habe „Verantwortung für das Land übernommen“ und „den Kandidaten der Mitte gewählt“. Die Thüringer CDU sei „nicht verantwortlich für die Kandidaten und das Verhalten anderer Parteien“. Für die Zukunft schloss Mohring aber jegliche Zusammenarbeit mit der AfD aus. Die CDU werde nicht in einer Regierung mit Ministern der Rechts-Partei zusammenarbeiten. Regierungschef Kemmerich müsse sich nun klar nach rechts abgrenzen.
Kemmerich war erst im dritten Wahlgang angetreten, in dem die relative Mehrheit ausreicht. Zuvor war Ramelow zweimal an der absoluten Mehrheit gescheitert – das rot-rot-grüne Bündnis verfügt seit der Wahl nur noch über 42 der insgesamt 90 Sitze im Landtag. Der parteilose AfD-Kandidat Christoph Kindervater hatte in den ersten beiden Wahlgängen 25 Stimmen erhalten. Im dritten Wahlgang bekam Kindervater keine Stimme mehr – auch nicht aus der AfD-Fraktion. Stattdessen wurde Kemmerich gewählt.
Freie Demokraten #Thüringen: #Politik, gegen den #Trend vernünftig #fdpthüringen #Kemmerichthl pic.twitter.com/C1btUEdtw2
— Thomas L. Kemmerich (@KemmerichThL) August 22, 2019
Nach der Landtagswahl Ende Oktober hatte Ramelow zunächst versucht, FDP oder Union von einer Tolerierung zu überzeugen. Die Union liebäugelte anfangs damit, Ramelow zu unterstützen, nahm aber schnell Abstand davon, nachdem die Bundesspitze ihre klare Ablehnung signalisiert hatte. Die ohnehin schon komplizierten Verhältnisse in Thüringen sind nun noch schwieriger geworden.
„Weg in die Katastrophe“
Für Forsa-Chef Manfred Güllner weckt das Ergebnis Erinnerungen an die Weimarer Republik. „Wir geraten ins Fahrwasser von Weimar“, sagte Güllner dem Handelsblatt. „Damals haben die Konservativen den Nationalsozialisten gestattet, an der Macht teilzuhaben. Die Konservativen dachten, man könne die Nazis gewissermaßen einzäunen und ihre Macht begrenzen. Das Ergebnis ist bekannt“, sagte er. Nach nur einem halben Jahr seien alle demokratischen Institutionen einschließlich der Parteien aufgelöst gewesen. „Der Weg in die Katastrophe ließ sich nicht mehr aufhalten“, sagte Güllner.
Ob das Erfurter Wahlergebnis „nun auf Strategie oder Blödheit beruht, ist letztlich gleichgültig“, fügte er hinzu. „Ein paar Abgeordnete der FDP hätten ihren Kandidaten einfach nicht wählen dürfen.“ Entweder hätten sie es dennoch bewusst getan und damit die AfD zum Steigbügelhalter gemacht. Oder sie seien sich der Konsequenz ihres Handelns nicht bewusst gewesen. „Das Resultat ist in beiden Fällen das gleiche“, sagte der Forsa-Chef.
Güllner warnte davor, die AfD zu verharmlosen. „Die AfD hat das rechtsradikale Potenzial, das es in Deutschland schon immer gab, vollständig aufgesogen. Die überwiegende Zahl der AfD-Wähler steht für ein geschlossen rechtsradikales Weltbild. Das gilt für die AfD im Westen und die AfD im Osten gleichermaßen“, sagte er.
Der AfD scheinen die Ereignisse in Thüringen sehr gelegen zu kommen. Direkt im Anschluss verschickte der AfD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Alexander Gauland, eine Pressemitteilung mit dem Titel „Die bürgerlichen Kräfte haben sich in Thüringen durchgesetzt“. Das Ausgrenzen seiner Partei habe nicht funktioniert, so Gauland. „Wir gratulieren Thomas Kemmerich zu seiner Wahl und wünschen ihm eine glückliche Hand.“
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Warum diese hysterische Aufregung.
Herr Kemmerich hat sich um das Amt beworben, um den Kommunisten/Sozialisten Ramelow zu verhindern, wie vor der Wahl auch von der CDU gesagt.
Nun ist er demokratisch gewählt worden. So ist es nun einmal in der Demokratie, oder sind die Stimmen der AfD ungültig?
Wie es mit der Zusammenarbeit mit der AfD vorhat, hat er glaubhaft gesagt.
Er macht den Eindruck, dass er es - wie auch die CDU - so hält.
Der Tabubruch war weit vorher - als die SPD und die Grünen mit den Nachfolgern des Unrechtssystem der ehemaligen DDR sich zusammengerottet haben.
Beide Extreme sollten von der Macht - demokratisch - ferngehalten werden.
Da sind wohl einige auf dem linken Auge blind.
Neuwahlen wäre zu einfach; auch Lindner Forderung, Politiker der Linken usw. sollten mit Herrn Kemmerich zusammen arbeiten, greift doch zu kurz! Herr Lindner hat seinen "Laden" nicht im Griff, genauso wie AKK.