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Verfassungswidrigkeit „Hier wird der Staat übergriffig“ – Zweifel an Spahns Tariftreue-Gesetz für die Pflege mehren sich

Private Pflegeanbieter klagen gegen die Pflicht, künftig Tariflöhne zahlen zu müssen. Nach einem Rechtsgutachten, das dem Handelsblatt vorliegt, haben sie gute Erfolgsaussichten.
18.10.2021 - 14:16 Uhr Kommentieren
Die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, ist ein legitimes Ziel, heißt es in dem Rechtsgutachten. Aber der eingeschlagene Weg sei fragwürdig. Quelle: dpa
Pflegekraft und Bewohnerin eines Seniorenheims

Die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, ist ein legitimes Ziel, heißt es in dem Rechtsgutachten. Aber der eingeschlagene Weg sei fragwürdig.

(Foto: dpa)

Berlin Es war eines der letzten Vorhaben, das Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und die Große Koalition noch auf den Weg gebracht haben: das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung.

Es sieht unter anderem vor, dass private Pflegeanbieter ab September 2022 nur noch Geld von den Pflegekassen bekommen, wenn sie an einen Tarifvertrag oder kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gebunden sind oder zumindest entsprechende Löhne und Gehälter zahlen.

Die Regierung will so die Arbeitsbedingungen in der Branche verbessern, dem Fachkräftemangel entgegenwirken und für mehr Tarifbindung sorgen. Doch mehrere private Pflegeanbieter wollen das so nicht hinnehmen und haben – unterstützt vom Arbeitgeberverband BPA (Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste) – Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz eingelegt.

„Die Tariftreueregelung ignoriert die grundgesetzlich garantierte Staatsfreiheit der Lohngestaltung und Lohnfindung“, kritisiert BPA-Präsident Rainer Brüderle. „Hier wird der Staat übergriffig.“

Um seine Position zu untermauern, hat der Verband beim Arbeitsrechtler Felix Hartmann von der Freien Universität Berlin ein Gutachten in Auftrag gegeben, das dem Handelsblatt vorliegt. Hartmanns Fazit: Die Pflicht zur Tariftreue in der Pflege ist aus mehreren Gründen verfassungswidrig.

So hätten Unternehmen nach Grundgesetzartikel 12 zur Berufsfreiheit das Recht, Arbeitsbedingungen frei auszuhandeln. Dieses werde durch die Verpflichtung, Tariflöhne zu zahlen, verletzt, heißt es in dem Gutachten. Zwar könne der Gesetzgeber das Recht einschränken, wenn es dem Gemeinwohl dient und der Eingriff verhältnismäßig ist.

Das Bundesverfassungsgericht hatte beispielsweise im Jahr 2006 das Vergabegesetz des Landes Berlin, das die Vergabe öffentlicher Aufträge von der Tariftreue der Auftragnehmer abhängig macht, für rechtens erklärt. Denn Firmen, die keinen Tariflohn zahlen wollen, können ja durchaus für andere Auftraggeber tätig werden, nur eben nicht für das Land Berlin.

Im Pflegebereich sei die Situation aber eine gänzlich andere, argumentiert Hartmann. Anbieter sind hier faktisch darauf angewiesen, Versorgungsverträge mit den Pflegekassen abzuschließen und ihre Leistungen darüber abzurechnen. Abseits davon sei ein wirtschaftliches Überleben „allenfalls in Nischen denkbar“, schreibt er in dem Gutachten.

Das Recht, Gewerkschaften nicht beizutreten

Von einer freiwilligen Tariftreue, wie im Falle des Berliner Vergabegesetzes, könne in der Pflege also keine Rede sein. Denn Anbieter, die keine Tariflöhne zahlen wollten, könnten wirtschaftlich kaum überleben.

Das Verfassungsgericht wird sich aber auch mit der Frage der Koalitionsfreiheit auseinandersetzen müssen. Artikel 9 des Grundgesetzes verbrieft das Recht, Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden beizutreten – aber auch, solchen Vereinigungen fernzubleiben. Diese „negative Koalitionsfreiheit“ sieht Hartmann verletzt.

Denn der neue Rechtsrahmen lasse privaten Pflegeanbietern keine realistische Option, auf eine normative Tarifbindung zu verzichten. Ein Arbeitgeber, der zur Zahlung von Tariflöhnen verpflichtet sei, könne sich dem Ansinnen einer Gewerkschaft, auch selbst einen Tarifvertrag abzuschließen, kaum noch verweigern.

Ziele ohne einschneidende Grundrechtseingriffe erreichen

Für nicht stichhaltig hält Hartmann zudem die Begründung für die Grundrechtseingriffe. Und er bezweifelt, dass sie zur Erreichung der formulierten Ziele tatsächlich erforderlich sind. Zwar verfolge der Gesetzgeber ein legitimes Ziel, wenn er den Personalmangel in der Pflege bekämpfen wolle. Ob und in welchem Umfang dieser aber auf die Bezahlung zurückzuführen ist, sei unklar.

Außerdem gebe es andere Möglichkeiten, für eine bessere Bezahlung in der Pflege zu sorgen, etwa über die branchenspezifische Mindestlohnkommission. Auch könne die Politik einen zwischen einem Arbeitgeberverband und einer Gewerkschaft geschlossenen Tarifvertrag durch Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich erklären und damit auf die gesamte Branche erstrecken – auch wenn ein entsprechender Versuch in diesem Jahr gescheitert war.

Geht es nach Hartmann, dann kann das von Spahn auf den Weg gebrachte Gesetz zur pflegespezifischen Tariftreue in Karlsruhe jedenfalls keinen Bestand haben. Denn es nehme „den Betreibern von Pflegeeinrichtungen die Möglichkeit, ihr Unternehmen im Wege freier Gestaltung der Arbeitsbeziehungen wirtschaftlich zu nutzen“.

Das Bundesverfassungsgericht bestätigte auf Anfrage, dass vier Kläger Beschwerde gegen das Gesetz eingelegt haben. Wann eine Entscheidung falle, sei derzeit noch nicht absehbar.

Mehr: Der Pflegenotstand herrscht auch zu Hause, nicht nur in den Heimen.

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