Wirtschaft am Limit Fachkräftemangel ist das größte Risiko für den Aufschwung – aber nicht das einzige

Viele Produktionsanlagen arbeiten wegen Personalmangel derzeit am oder knapp unter dem Limit.
Berlin Harald Grumser sucht dringend Personal. „IT-Fachkräfte zu bekommen ist sehr schwierig und sehr teuer. Dieser Fachkräftemangel kostet uns Wachstum. Wir haben mehr Projekte als Personal“, sagt der Chef des Böblinger Mittelständlers Compart, eines Hidden Champion im Bereich der Dokumentenkonvertierung.
Die Hälfte der 160 Mitarbeiter sind Informatiker, Entwickler, Techniker für Bildkomprimierung oder Experten für Kryptologie und HTML. Zehn weitere Spezialisten bräuchte Grumser dringend. Doch die sind rar.
Im neunten Jahr des Aufschwungs stößt die deutsche Wirtschaft zunehmend an Grenzen. „Im Dienstleistungsbereich berichteten zuletzt rund 30 Prozent der befragten Unternehmen, dass ihre Geschäftstätigkeit durch einen Mangel an Fachkräften behindert wird“, sagt Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums am IfW Kiel.
Im IT-Bereich seien „erfahrene Fachkräfte überall auf der Welt rar und heiß begehrt“, berichtet auch Marika Lulay, Chefin des IT-Unternehmens GFT.
Volle Auftragsbücher
Die Auftragsbücher der Firmen sind voll, und es fällt zunehmend schwer, alle Bestellungen fristgerecht abzuarbeiten. Das wirkt sich inzwischen auf die eng getakteten Lieferketten aus. „Unsere Einkäufer berichten aufgrund prall gefüllter Auftragsbücher von vereinzelten Engpässen“, sagt Silvius Grobosch, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME).
Die Lage sei so ernst wie seit mehr als 20 Jahren nicht – das ist die Botschaft des jüngsten Einkaufsmanagerindexes, einer Umfrage unter 500 Unternehmen. Schuld sind Kapazitätsengpässe bei Lieferanten, auch Material wird knapp. Noch sei die Sorge über eine Überhitzung der deutschen Wirtschaft übertrieben, beschwichtigt DIW-Präsident Marcel Fratzscher, weil „weder die Inflation noch die Löhne exzessiv steigen“.
Dennoch: 42 Prozent der vom Dienstleister IHS Markit befragten Einkaufsmanager berichteten im Februar, dass sie länger auf Ware der Zulieferer warten mussten als im Vormonat – so viele wie lange nicht. Schuld war neben Kapazitätsengpässen bei den Lieferanten auch die mangelnde Verfügbarkeit von Materialien wie Metall, Kunststoff oder Elektronikbauteilen.
Viele Produktionsanlagen arbeiten derzeit am oder knapp unter dem Limit. Die Kapazitätsauslastung der Industrie liegt bei knapp 87 Prozent und damit auf dem höchsten Wert seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008. Um die Auftragsflut abarbeiten zu können, schaffen die Unternehmen neue Maschinen an oder modernisieren ihre Fabriken.
Die Bruttoanlageinvestitionen haben im vergangenen Jahr deshalb spürbar angezogen. „Die Frage ist derzeit weniger, wo man Anzeichen für Anspannungen in der Wirtschaft sieht, sondern eher, wo sieht man noch keine“, sagt Kooths.
Oft sind die Engpässe eine direkte Folge des Fachkräftemangels, den immer mehr Firmen als das größte Hemmnis für ihr Geschäft nennen.
Vor allem bei den Logistikunternehmen schlägt dies direkt durch: Wo Lkw-Fahrer fehlen, bleiben Aufträge liegen. 47 Prozent der Firmen schilderten dem IfW dieses Problem.
Dass Arbeitskräfte knapp werden, zeigt sich an der Rekordzahl offener Stellen: 1,2 Millionen zählte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Schlussquartal 2017, so viele wie nie. Auf 100 Stellen in Westdeutschland kommen noch 194 Arbeitslose, im Osten sind es 225 – die niedrigsten Werte seit 25 Jahren.
Die Daten lassen auf bessere Arbeitsmarktchancen für die immer noch gut 2,5 Millionen Arbeitslosen hoffen, sagt IAB-Experte Alexander Kubis. „Sie bedeuten aber auch steigende Herausforderungen für die Arbeitgeber bei der Personalrekrutierung.“
Vor allem in der Industrie und im Baugewerbe, aber auch im Handwerk zeigen sich die massiv. In der Herbstumfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) nannten auf die Frage nach den größten Geschäftsrisiken 56 Prozent der befragten Unternehmen den Fachkräftemangel.
Im verarbeitenden Gewerbe ist die Zahl der offenen Stellen gegenüber dem Vorjahresquartal um 35 Prozent gewachsen, im Bausektor um knapp ein Viertel. „Die Fachkräftesicherung wird im Wettbewerb mit anderen Branchen eine immer größere Herausforderung“, sagt Karl-Heinz-Schneider, Vorsitzender der Bundesvereinigung Bauwirtschaft.
Die Branche rechnet für das laufende Jahr mit einem Personalaufbau um weitere 35.000 auf dann gut 3,3 Millionen Beschäftigte. Seit 2011 sind damit rund 220.000 neue Stellen geschaffen worden.
Neues Personal ist deshalb von Monat zu Monat schwerer zu finden: Stellen für Meister im Hochbau sind im Schnitt 153 Tage und im Tiefbau 164 Tage vakant und liegen damit deutlich über der durchschnittlichen Engpassgrenze von 100 Tagen. Auf einen arbeitslosen Bauingenieur kommen zwei offene Stellen.
„Es gibt Engpässe in Form steigender Vakanzzeiten bei der Besetzung freier Stellen bei einer Reihe von Berufen“, sagt Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI). „Am längsten dauert es übrigens, Altenpfleger zu finden, die Wiederbesetzungsspanne ist dort mit 171 Tagen deutlich höher als bei IT-Fachleuten.“
Ernst ist die Situation auch in der Metall- und Elektroindustrie. Dort klagen schon 29 Prozent der Unternehmen über Produktionsbehinderungen durch fehlendes Personal, so viele wie nie zuvor.
Das Handwerk hat im vergangenen Jahr rund 50.000 Jobs geschaffen, doch das reicht nicht: „Manche Betriebe können schlichtweg keine Aufträge mehr annehmen, weil sie einfach nicht das Personal haben, um sie abzuarbeiten“, sagt der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Hans Peter Wollseifer. Vier von zehn Betrieben klagen über Schwierigkeiten bei der Besetzung offener Stellen.
Zwar seien Arbeitskräfte derzeit nur in einzelnen Branchen und Regionen knapp, sagt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher: „Die Gefahr eines Fachkräftemangels für die Zukunft ist jedoch erheblich.“
Grund sei neben der Alterung der Gesellschaft die weiter zu geringe Ausbildungsquote in technischen Fächern. Auch Ifo-Präsident Clemens Fuest mahnt größere Anstrengungen der Politik an. „Dazu gehört – neben verstärkten Ausbildungsanstrengungen – die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Abschaffung von Fehlanreizen zur Frühverrentung.“ Auch das im Koalitionsvertrag von Union und SPD versprochene Fachkräftezuwanderungsgesetz sei ein wichtiger Baustein.
Fratzscher verlangt zudem eine Abschaffung des Ehegattensplittings – um den Anreiz für Frauen zu erhöhen, mehr Wochenstunden zu arbeiten. Denn nach Belgien ist Deutschland das EU-Land, in dem die Wochenarbeitszeit zwischen Frauen und Männern am weitesten auseinanderklafft.
Engagement der Firmen gefragt
GFT-Chefin Lulay vermisst allerdings auch kreative Ideen von den Unternehmern. „Viele denken leider immer noch, sie könnten Fachkräfte wie eine Ware einkaufen.“ Jeder wolle ausschließlich exzellent ausgebildete und erfahrene Mitarbeiter. Die Firmen müssten aber viel gezielter den Nachwuchs fördern.
„Wenn die Wirtschaft bereit wäre, mehr Kompromisse einzugehen, gäbe es auch weniger Fachkräftemangel“, sagte sie. Auch HRI-Ökonom Rürup kritisiert die Firmen. „Für Unternehmer herrscht offenbar schon dann ein Mangel, wenn es nicht mehr gelingt, zu den bisherigen Bedingungen zügig neue, nach Möglichkeit jüngere Kräfte einstellen zu können. Vielleicht müssen die Arbeitgeber in diesem Punkt ein Stück weit umdenken“, verlangte er.
Der Fachkräftemangel ist aber nur ein Grund, warum der Aufschwung womöglich bald nur noch mit angezogener Handbremse weitergehen könnte. Denn auch beim Material stoßen die Unternehmen an erste Grenzen. In der Metall- und Elektroindustrie melden die Firmen eine Auslastung ihrer Produktionsanlagen von 89,2 Prozent, ein Wert, der zuletzt 2008 gemessen wurde – vor dem großen Crash.
Auch in der chemischen Industrie waren die Kapazitäten im vergangenen Jahr dank verstärkter Nachfrage aus dem In- und Ausland mit im Mittel 86,3 Prozent überdurchschnittlich ausgelastet. „Die deutsche Chemiekonjunktur läuft auf Hochtouren“, sagt Henrik Meincke, Chefvolkswirt des Branchenverbands VCI.
Angesichts des Auftragsbooms klagten einzelne Firmen im vergangenen Jahr über zu niedrige Lagerbestände bei Vorprodukten, wodurch sich die Lieferzeiten verlängert hätten, sagt Meincke. Mittlerweile hätten sich die Unternehmen aber auf die gute Nachfragesituation eingestellt.
Entspannter stellt sich die Lage im Maschinenbau dar. Nach fünf Jahren mit mageren Wachstumsraten verzeichnete die Branche 2017 mit einem Produktionsplus von drei Prozent ein erstes echtes Aufschwungjahr. Dennoch klagen auch hier schon acht Prozent der Unternehmen über Kapazitätsengpässe in den Produktionsanlagen, bei gut einem Fünftel wird das Material knapp.
„Das sind aber keine Überhitzungserscheinungen, sondern Charakteristika für einen jungen Aufschwung“, heißt es beim Branchenverband VDMA. Zulieferer und Maschinenbauer müssten sich erst auf die höheren Ordermengen einstellen und investieren. Dreizehn Prozent der Firmen könnten durchaus noch mehr Aufträge vertragen. Die deutsche Wirtschaft arbeitet am Limit – aber halt noch nicht überall.
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