Wirtschaftsskandale Dieselskandal und Wirecard-Betrug: Landgericht Stuttgart beklagt Überlastung wegen Massenklagen

Die Zahl der offenen Verfahren habe sich mit 13.644 innerhalb von dreieinhalb Jahren verdoppelt.
Stuttgart Der Präsident des Landgerichts Stuttgart, Andreas Singer, schlägt Alarm: Massenklagen im Zusammenhang mit dem Abgasskandal und Kapitalanlegerklagen nähmen das vierte Jahr in Folge dramatisch zu und sorgten für eine Überlastung des Gerichts. Gegen die Volkswagen AG seien in zwei Klagewellen rund 4500 Dieselklagen am Landgericht Stuttgart eingegangen.
Daneben seien mehr als 11.000 Dieselklagen gegen den Daimler-Konzern erhoben worden. Allein im ersten Halbjahr 2021 seien 4500 Klagen gegen den Stuttgarter Autobauer hinzugekommen. Darüber hinaus seien Hunderte Anlegerklagen gegen die Porsche Automobil Holding SE, Volkswagen, Daimler, aber auch gegen EY im Zusammenhang mit dessen Wirtschaftsprüfertätigkeit bei Wirecard eingegangen.
„Unsere Ressourcen sind auf diese Massenklagen nicht ausgerichtet“, sagte Singer bei der Jahrespressekonferenz. Die Verfahrensbestände seit Beginn der Klagewellen hätten sich verdoppelt. 2020 seien rund 16.700 Klagen bei den erstinstanzlichen Zivilkammern eingegangen. Die Eingangszahlen bei den Massenklagen hätten um mehr als 60 Prozent zugelegt. Singer berichtete hier über eine weitere Verstärkung des Trends: Allein im ersten Halbjahr 2021 seien 43 Prozent mehr Klagen eingegangen.
Das Gericht könne der Klagewelle kaum noch Herr werden. Die Verfahrenszeiten verlängerten sich deutlich: Die Zahl der offenen Verfahren habe sich mit 13.644 innerhalb von dreieinhalb Jahren verdoppelt. „Wir benötigen weitere Verstärkung. Unsere Beschäftigten arbeiten seit Beginn der ersten Dieselwelle im Jahr 2018 an der Belastungsgrenze“, betonte der Gerichtspräsident. Er sieht bereits das Vertrauen in den Rechtsstaat als gefährdet an. Einfache Zivilklagen dauerten deswegen inzwischen deutlich länger als sieben Monate.
Klageindustrie nutzt das Internet
Eine der Ursachen für die enorme Verfahrenszunahme sieht der Landgerichtspräsident in der Digitalisierung und bezeichnete sie als „massiven Treiber dieser Klagewellen“. Heute genügen schon wenige Klicks, um eine Klage auf den Weg zu bringen. Spezialisierte Anwaltskanzleien werben in den sozialen Medien und auf Internet-Portalen um neue Mandanten. Das Kostenrisiko der Klagen wird häufig von Legal-Tech-Unternehmen, Prozessfinanzierern oder Rechtsschutzversicherern übernommen.
„Nach amerikanischem Vorbild werden zum Zwecke einer Klageerhebung sogar eigene Gesellschaften gegründet, die werbewirksam Kläger einsammeln und sich deren Ansprüche abtreten lassen – so am Landgericht Stuttgart etwa in Kartellverfahren“, berichtete Singer: „Dieses Rad wird sich nicht mehr zurückdrehen lassen. Wir sind mitten in einem Umbruch unserer Justiz.“
Dieser Prozessindustrie sieht sich das Gericht nahezu hilflos gegenüber. „In den massenhaft erhobenen Individualklagen geht es immer wieder um ähnlich gelagerte Sachverhalte und parallele Rechtsfragen. Und dennoch müssen wir jede Klage einzeln verhandeln und entscheiden“, so Singer. Am Landgericht Stuttgart befassen sich derzeit 110 Richterinnen und Richter mit den rund 15.600 Dieselabgasklagen gegen VW und Daimler.
Höchstrichterliche Entscheidungen dauern zu lange
Grundsätzliche Fragen im Zusammenhang mit einer möglichen Haftung der Daimler AG sind auch zweieinhalb Jahre nach Beginn der ersten Klagewelle gegen den Stuttgarter Autobauer höchstrichterlich noch nicht geklärt. „Das dauert derzeit schlichtweg zu lange“, bemängelt Singer. Er fordert in diesem Zusammenhang die Möglichkeit für die erstinstanzlichen Gerichte, anhängige Individualklagen bis zur höchstrichterlichen Klärung auszusetzen.“ Bislang müssen die Verfahren trotz ähnlicher Sachlage parallel zu den Musterfeststellungsklagen verhandelt werden.
Die vor zweieinhalb Jahren eingeführte Musterfeststellungsklage helfe aus Sicht der Gerichtspraxis nicht weiter, sagt Singer. Beispielsweise deckten die Musterfeststellungsklagen zu den Modellen der Mercedes-Baureihen GLK und GLC keine zehn Prozent der vor dem Landgericht Stuttgart anhängigen Daimler-Klagen ab. „Mit der Musterfeststellungsklage in ihrer bisherigen Ausgestaltung werden wir die Massenklagen nicht in den Griff bekommen“, ist Singer überzeugt.
Er fordert daher ein starkes Instrument für kollektiven Rechtsschutz. „Solange die Individualklage attraktiver als der Anschluss an eine Sammelklage ist, kann die Justiz Massenklagen nicht kanalisiert und strukturiert abarbeiten“, prognostiziert der Landgerichtspräsident: „Der Reformdruck ist aus Sicht der gerichtlichen Praxis enorm.“
Die Justizministerkonferenz hat sich bereits für ein Vorlageverfahren zum Bundesgerichtshof ausgesprochen, um grundsätzliche Rechtsfragen künftig vorab höchstrichterlich klären zu lassen. Diesen Vorstoß begrüße er, so Singer: „Eine wichtige Aufgabe der künftigen Bundesregierung wird es sein, den kollektiven Rechtsschutz fortzuentwickeln. Geschädigte müssen schnell und kostengünstig zu ihrem Recht kommen.“ Seiner Überzeugung nach sei dabei ein direkter Zahlungsanspruch am Ende des Verfahrens und eine Verjährungshemmung etwaiger Ansprüche unabhängig von einem Anschluss an die Musterfeststellungsklage zentral.
Mehr: Anleger verklagen Porsche SE – Winterkorns heikle Doppelrolle im Abgasskandal.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.