Zusammenarbeit von Unternehmen Wie weit dürfen Wettbewerber in der Krise kooperieren? – Kartellamtschef warnt vor Preisabsprachen

„Wenn Unternehmen jetzt die Notlage ausnutzen würden, etwa durch Preisabsprachen zu Lasten der Verbraucher oder indem sie ihre Marktmacht missbrauchen, würden wir das konsequent verfolgen“, sagt der Präsident des Bundeskartellamts.
Berlin In der Coronakrise wenden sich immer mehr Unternehmen an das Bundeskartellamt, um sich für Kooperationen mit Wettbewerbern freistellen zu lassen. „Seit Ausbruch der Epidemie haben wir zahlreiche Gespräche mit Unternehmen, Verbänden und der Politik geführt“, sagte Kartellamtschef Andreas Mundt dem Handelsblatt.
Die Anfragen kämen aus unterschiedlichsten Branchen. „Das Kartellrecht ist hinreichend flexibel, und wenn es gute Gründe für eine notwendige Zusammenarbeit zwischen Unternehmen gibt, dann unterstützen wir diese auch“, betonte der Präsident des Bundeskartellamts. Das sei auch schon vor der Coronakrise in sehr weitem Umfang möglich gewesen.
Laut Mundt zeichnen sich in der Coronakrise „Cluster von Fragestellungen“ ab, bei denen die Behörde die Unternehmen unterstützt hat. Das sind zum einen Pläne zur Zusammenarbeit bei der Produktion zur Vermeidung von Engpässen, inklusive von Notfallplänen für den Fall, dass Produzenten ausfallen.
Zudem kämen Anfragen zur Kooperation bei Themen wie der Lagerhaltung und Umverteilung zwischen den Unternehmen, um Lieferengpässe zu vermeiden oder zu beseitigen.
„Bereits jetzt wird das Anliegen geäußert, nach Abklingen der Krise gemeinsame Aktionen vornehmen zu können, um die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu überwinden“, berichtete Kartellamtschef Mundt. „Soweit solche Maßnahmen aufgrund der gegenwärtigen Krise notwendig sind, sind sie – zeitlich begrenzt – auch kartellrechtlich unbedenklich.“
Mundt betonte jedoch: „Das Kartellrecht zieht aber gerade in solch schwierigen Zeiten auch eine wichtige Grenze. Wenn Unternehmen jetzt die Notlage ausnutzen würden, etwa durch Preisabsprachen zu Lasten der Verbraucher oder indem sie ihre Marktmacht missbrauchen, würden wir das konsequent verfolgen.“
EU-Kommission unterstützt mit „Comfort Letters“
Bemerkenswert ist, dass die EU-Kommission befristete Regeln für die mögliche Zusammenarbeit von Wettbewerbern in der Coronakrise veröffentlicht hat. Sie unterstützt nun Unternehmen mit schriftlichen Bescheinigungen, genannt Comfort Letters, zur Freistellung konkreter Kooperationsvorhaben.
Einen solchen Schritt hat Brüssel seit vielen Jahren nicht unternommen. „Dieser Weg bietet noch mehr Rechtssicherheit“, sagt Kartellrechtlerin Daniela Seeliger von der Kanzlei Linklaters und berichtet: „Der erste Comfort Letter wurde bereits für die Zusammenarbeit zwischen Arzneimittelherstellern erteilt.“
Neben der medizinischen Versorgung könnten sich auch der Lebensmitteleinzelhandel, die Telekommunikationsdienstleister, Logistikunternehmen und im Ergebnis alle Sektoren, die für Verbraucher wesentliche Produkte oder Dienstleistungen erstellen, auf diese Leitlinien stützen.
Dass in der Coronakrise nicht aktiv gegen eine notwendige und zeitlich beschränkte Zusammenarbeit von Wettbewerbern vorgegangen wird, hat auch das Netzwerk der europäischen Wettbewerbsbehörden (ECN) in einer gemeinsamen Erklärung signalisiert.
Zwar wurde die grundsätzliche Geltung des Kartellrechts auch in Krisenzeiten bekräftigt sowie das Ziel, gleiche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen aufrecht zu erhalten. Zugleich wurden den Unternehmen aber aktiv informelle Konsultationen angeboten und krisenbedingte Ausnahmen in Aussicht gestellt.
Angemessene Flexibilität zeigen
Ähnlich liest sich der Tenor der Erklärung, die das Netzwerk der internationalen Wettbewerbsbehörden (ICN) direkt vor Ostern herausgegeben hat. Dem ICN gehören 140 Wettbewerbsbehörden aus 129 Staaten an. Diese werden aufgefordert, gegenüber wettbewerbswidrigem Verhalten wachsam zu bleiben, aber in transparenter Weise eine angemessene Flexibilität zu zeigen.
„Viele Branchen gehen derzeit auf die Kartellbehörden zu oder erwägen derartige informellen Konsultationen“, berichtet Christian Ritz, Kartellrechtler bei der Kanzlei Hogan Lovells. Das betreffe etwa die verarbeitende Industrie oder Bereiche der Materialproduktion. „Es gibt auch naheliegende Bestrebungen in der Pharma- und Arzneimittelindustrie und bei Medizinprodukten sich zu möglichen Kooperationen mit den Kartellbehörden abzustimmen.“
Ein typischer Fall: In der Pharmabranche können Zulieferer aus China oder Indien nicht mehr die vereinbarten Mengen liefern oder europäische Zulieferer stehen vor der Insolvenz. „Betroffene Abnehmer könnten sich dann mit den Behörden darüber austauschen, ob sie Zulieferer gemeinsam retten oder sich zu gemeinsamen Rettungsbestrebungen oder zur Sicherstellung der Lieferketten absprechen dürfen“, erklärt Ritz.
Das Kartellverbot untersage grundsätzlich, dass sich Gläubiger eines Zulieferers darüber verständigen, wie sie in derartigen Situationen und mit konkreten Maßnahmen umgehen, etwa der Stundung von Forderungen oder dem Kapazitätsmanagement.
„Ein derartiger Austausch könnte zunächst als ein kartellrechtlich unzulässiger Informationsaustausch angesehen werden, wenn die Daten nicht hinreichend aggregiert und anonymisiert ausgetauscht werden“, erklärt Kartellrechtler Ritz.
Austausch muss im Rahmen des Erforderlichen bleiben
Hier gebe es jedoch bereits erste Anhaltspunkte, dass sich solche Probleme in der Coronakrise im Austausch mit den Kartellbehörden lösen ließen, wenn es hierfür zwingend Gründe gebe und sich der Austausch im Rahmen des Erforderlichen halte.
„Kartellrechtsverstöße können hohe Geldstrafen zur Folge haben“, warnt Rechtsexpertin Seeliger. „Die Angst davor darf aber kein Hemmschuh bei jetzt notwendiger Zusammenarbeit sein.“ So müssten Wettbewerber rasch kooperieren können, wenn sie beispielsweise nur gemeinsam die Unterbrechung von Lieferketten oder gar den Verlust von Lieferanten verhindern könnten.
Die Zusammenarbeit müsse aber objektiv notwendig sein, damit Versorgungsengpässe bei wesentlichen Produkten oder Dienstleistungen vermieden werden. „Sie darf nur vorübergehend und auf das notwendige beschränkt sein“, erklärt Seeliger. „Unternehmen sollten dies gut dokumentieren und den Kartellbehörden zur Verfügung stellen können.“
Während derzeit einzelne Unternehmen oder Unternehmensgruppen den Kontakt zu den Kartellbehörden suchen, werden auch die Verbände aktiv. So gab der europäische Handelsverband Euro-Commerce, der die Interessen von fast 29 Millionen Beschäftigten vertritt, in einer Stellungnahme bekannt, dass Händler Informationen über ihre jeweiligen Bestände austauschen und Lieferungen in die Wohnungen von Hilfsbedürftigen organisieren.
„Wir sind froh, dass Regierungen und Wettbewerbsbehörden bedeutet haben, unter diesen sehr besonderen Umständen auf die Anwendung normaler Wettbewerbsbestimmungen verzichten zu können“, schrieb der Verband. Solche Kooperationen müssten aber auch tatsächlich erlaubt werden.
Norwegische Airlines dürfen Strecken koordinieren
Die britische Regierung hat Lebensmittelhändler bereits berechtigt, Informationen zu Lagerbeständen auszutauschen und bei Logistik, Personaleinsatz und Lagerhaltung zu kooperieren. „Das Kartellrecht wird insoweit temporär ausgesetzt“, resümiert Kartellrechtler Ritz.
In Norwegen gestatteten die Behörden eine „seltene Ausnahme“ vom Kartellrecht, indem sie den Airlines SAS and Norwegian zugestanden, in der Coronakrise ihre Flugstrecken zu koordinieren. Auf diese Weise soll ein minimaler Service für die Fluggäste aufrechterhalten werden. Normalerweise dürfen solche wettbewerbssensiblen Informationen nicht ausgetauscht oder gar abgestimmt werden.
„Unternehmen werden jedoch sehr genau drauf achten müssen, dass sie nicht darüber hinaus schießen, was mit den Behörden abgestimmt war“, mahnt Rechtsexperte Ritz. Er erwartet bei aller Flexibilität der Behörden jetzt, dass es spätestens nach der Coronakrise zu Kartelluntersuchungen kommen wird. „Es ist zu erwarten, dass Kartellverstöße im Verlauf der aktuellen Krise zunehmen werden. Die Kartellbehörden werden die Entwicklungen genau beobachten.“
Das Netzwerk der europäischen Wettbewerbsbehörden (ECN) hat bereits angekündigt, aktiv zu werden, sollten Unternehmen ihre marktbeherrschende Stellung ausnutzen. So müssten etwa Gesichtsmasken zu wettbewerbsfähigen Preisen verfügbar sein. Hersteller solcher Produkte hätten etwa die Möglichkeit, maximale Weiterverkaufspreise vorzugeben, um Preissteigerungen im Vertrieb zu verhindern.
Kartellrechtler bringen in der Coronakrise noch eine weitere Variante ins Spiel: Sie erinnern an Strukturkrisenkartelle. „Darunter fallen etwa industrieweit abgestimmte Pläne zum Abbau von Überkapazitäten, durch Reduzierung oder Verteilung von Produktions- und Lagerkapazitäten oder zur Schließungen von Filialen oder auch durch Spezialisierungsvereinbarungen“, erklärt Kartellrechtler Ritz.
Krise könnte mehr Flexibilität bei Kartellbehörden bringen
Laut den bisherigen Verlautbarungen aus Brüssel sei eine Strukturkrise jedoch keine bloße zyklische Rezession, sondern ein Ereignis, das dauerhaft die Marktkräfte außer Kraft setze und deswegen eine Koordinierung zum Abbau der Überkapazitäten erfordere.
„Unternehmen loten das bereits jetzt aus, weil die Krise ungebremst eingeschlagen ist und nach den aktuellen Prognosen wohl auch noch lange nachwirken wird“, berichtet Ritz. Er erinnert an die Vereinbarung zwischen Herstellern synthetischer Chemiefasern von 1984 oder die Schließung von Produktionsstandorten von Ziegelsteinherstellern von 1994.
„Im Idealfall würde eine mit der Behörde abgestimmte, branchenweite Koordinierung laufen, die letztlich dazu führt, dass Überkapazitäten abgebaut und Effizienzen gesteigert werden“, erläutert Ritz. Das Ganze müsse aber zwingend zum Wohle der Verbraucher geschehen.
„Vergangenen Krisen haben gezeigt, dass die Hürden, die Kartellbehörden für derartige Wettbewerbsbeschränkungen setzen, recht hoch sind“, meint der Rechtsexperte. Es gebe jedoch Anzeichen, dass die aktuelle Krise zu einer erhöhten Flexibilität bei den Kartellbehörden führe.
Kartellrechtler Maxim Kleine von der Kanzlei Norton Rose Fulbright sieht ebenfalls einen Bedarf für weitere Freistellungen vom Kartellverbot, die diejenigen Branchen betreffen, die gegenwärtig unter einem vollständigen oder weitgehenden Nachfrageeinbruch leiden und dies voraussichtlich auch längere Zeit werden.
„Dies betrifft Branchen wie Fluglinien, den Einzelhandel, aber auch Gastronomie und Kinos“, meint Kleine. „Die Kartellbehörden beharren gegenwärtig noch auf alten Mustern. Sie müssten aber nach dem Vorbild der Strukturkrisenkartelle neu denken und in Erwägung ziehen, auch für solche Fälle langfristige Wettbewerbskooperationen zu billigen“, fordert er.
Diese Kooperationen könnten für einen Zeitraum von bis zu drei oder fünf Jahren erforderlich sein. Praktisch ginge es zum Beispiel um eine Verständigung darüber, welche Läden und Restaurants wann öffneten oder welche Fluglinien welche Strecken bedienten.
„Die Gestattung solcher Kooperationen wäre für einige Branchen möglicherweise ein geringer Eingriff in die marktwirtschaftlichen Strukturen als staatliche Beihilfen und gesamtwirtschaftlich gerechter“, meint Kartellrechtler Kleine. Zudem wäre so der Erhalt der wettbewerblichen Vielfalt für die Zeit nach der Krise gewährleistet.
Mehr: Das Gesundheitsministerium kann in der Coronakrise die Nutzung von Patenten anordnen.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.