Achim Steiner im Interview „Klimaschutzhilfen sind keine Almosen“ – Deutscher UN-Diplomat fordert Industrieländer zum Handeln auf

Achim Steiner hält die nächsten Jahre für entscheidend, um Chancen auf Klimaneutralität um 2050 zu bewahren.
Berlin Er hat bereits viele Klimakonferenzen erlebt: Achim Steiner, Chef der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNDP). Der Deutsch-Brasilianer, ranghöchster Deutscher bei den Vereinten Nationen, gehört seit Jahren zu jenen, die unermüdlich mahnen, mehr für den Klimaschutz zu tun.
„Wir sind in einem Rennen gegen die Zeit“, sagt Steiner jetzt im Interview mit dem Handelsblatt. „In den vergangenen Jahren ist zu wenig passiert – aufseiten der Politik und aufseiten der Wirtschaft.“ Die nächsten Jahre seien entscheidend, um noch eine Chance auf Klimaneutralität bis 2050 zu haben.
Vor dem Endspurt der Klimakonferenz in Glasgow warnte Steiner davor, einzelne Länder an den Pranger zu stellen, weil sie vermeintlich zu wenig täten. „In Glasgow sitzt jeder in einem Glashaus“, sagte der 60-Jährige, der vor seinem Job als UNDP-Chef schon zehn Jahre lang das Umweltprogramm der Vereinten Nationen in Nairobi geleitet hatte. „Insofern sollte jeder vorsichtig sein, wenn er auf andere Länder verweist.“ Die USA hätten die vergangenen vier Jahre gefehlt, nun seien sie wieder da. China habe angekündigt, bis 2060 CO2-neutral sein zu wollen – aber die Frage sei: Was leistet das Land in den nächsten zehn Jahren?
Widersprüche seien auf diesem Weg auszuhalten, etwa mit Blick auf China, das auf erneuerbare Energien setze und auch noch auf Kohlekraft, sagte Steiner weiter. „Am Ende muss sich jedes Land mit seinen Zielen vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen – das erhöht stetig den Druck.“
Von der neuen deutschen Regierung erwartet Steiner „sehr viel“. Er appellierte an die wahrscheinlichen künftigen Koalitionäre SPD, Grüne und FDP, eine Politik zu verfolgen, „die mit Technologie und intelligenten ordnungspolitischen Instrumenten große Sprünge nach vorn erlaubt“.
Das vollständige Interview lesen Sie hier:
Herr Steiner, die Weltklimakonferenz zeigt, dass die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit beim Klimaschutz immens ist. Wie sehen Sie die Lage?
Wir sind in einem Rennen gegen die Zeit. In den vergangenen Jahren ist zu wenig passiert – aufseiten der Politik und aufseiten der Wirtschaft. Aber, und das macht trotz fortschreitendem Klimawandel Mut, inzwischen gibt es einen Bewusstseinswandel. Von daher waren die vielen Initiativen der ersten Woche, etwa die Kohlepartnerschaft mit Südafrika oder der Stopp vieler Länder, im Ausland neue Kohlekraftwerke zu finanzieren, ein willkommenes Signal.
Sind Sie optimistisch, die Erderwärmung noch auf 1,5 Grad begrenzen zu können? Um 1,1 Grad ist die globale Durchschnittstemperatur bereits gestiegen.
Optimismus ist in so einer Situation nicht mehr angebracht. Jetzt braucht es Realismus – und der muss in konsequentes Handeln von Politik und Wirtschaft übersetzt werden. Ankündigungen für die ferne Zukunft reichen nicht aus. Entscheidend sind die Jahre bis 2030. Nur dann werden wir noch eine Chance auf Klimaneutralität bis 2050 haben.
Was heißt das für die Klimakonferenz? Dort geht das übliche Geschacher los.
Am Ende der Konferenz müssen die Ambitionen größer sein als die 2015 vereinbarten Ziele. Länder werden unterschiedliche Wege gehen, aber niemand kann sich aus der Verantwortung ziehen, schneller und konkreter zu handeln.
Zielt das auf China und Indien, von denen mehr erwartet wurde?
In Glasgow sitzt jeder in einem Glashaus. Insofern sollte jeder vorsichtig sein, wenn er auf andere Länder verweist. Die USA fehlten die letzten vier Jahre – nun sind sie wieder da. China hat angekündigt, bis 2060 CO2-neutral sein zu wollen – aber: Was leistet das Land in den nächsten zehn Jahren? Und Indien hat weitreichende Ankündigungen zum Ausbau der erneuerbaren Energien gemacht. Bis 2030 sollen mehr als 500 Gigawatt ans Stromnetz gebracht werden, das ist ein enormer Sprung nach vorn.
Ob China oder Indien erst 2060 oder zehn Jahre später CO2- oder klimaneutral aufgestellt sein wollen, ist sekundär?
Kein Land ist derzeit auf dem Kurs, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Insofern müssen alle Länder in den nächsten Jahren nachbessern. Immerhin ist das Ziel, sich um die Mitte des Jahrhunderts klimaneutral aufzustellen, für fast alle Länder verbindlich geworden, das darf man nicht unterschätzen. Vor zwei, drei Jahren war das noch für viele ein fast Science-Fiction-artige Vorstellung.
Und Widersprüche sind auf diesem Weg auszuhalten? Beispiel China, das auf Erneuerbare setzt und auf Kohlekraft?
Diese Herausforderung kennt Deutschland auch, von einem auf das andere Energiesystem umzusteigen. China wird in den nächsten zwei, drei Jahren noch auf Kohle setzen, um Energieengpässe zu überbrücken, und dann wird die Kohleinfrastruktur reduziert, davon gehe ich aus. Nur so kann es seine Emissionsziele erreichen. Am Ende muss sich jedes Land mit seinen Zielen vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen – das erhöht stetig den Druck.
Deutschlands Rolle bei Klimaschutz
Wo sehen Sie die spezielle Rolle der Industrieländer? Bei den Finanzhilfen für die Entwicklungsländer stehen sie auf der Bremse.
Die Industrieländer müssen endlich davon wegkommen, die Klimaschutzhilfen als Almosen zu betrachten. Die Entwicklungsländer müssen in den nächsten Jahren Milliarden in ihre Energiesysteme und die Anpassung an den Klimawandel investieren, und das vor dem Hintergrund, dass sie die zunehmenden Wetterextreme in den meisten Fällen gar nicht zu verantworten haben.
Was erwarten Sie von einer neuen deutschen Regierung?
Sehr viel. Die Koalitionäre haben ja selbst ein Signal für Erneuerung gegeben. Meine Hoffnung ist, dass sich die neue Regierung auch dem Multilateralismus stark verpflichtet fühlt. Der Klimawandel ist ja nur ein Thema, die Pandemie und die Armutsbekämpfung sind weitere, die wir als Weltgemeinschaft gemeinsam angehen müssen.
Der Klimaschutz sorgt aber offenbar schon für erste Differenzen.
Mein Appell ist, eine Koalitionspolitik zu verfolgen, die mit Technologie und intelligenten ordnungspolitischen Instrumenten große Sprünge nach vorn erlaubt. Dass das möglich ist, hat Deutschland in der Nachkriegsgeschichte schon mehrfach bewiesen, und das schafft, hoffe ich, auch die Ampel.
Welche Rolle müssen die Unternehmen spielen?
Die Wirtschaft hat sich über Jahre zu langsam bewegt. Heute lässt sich sagen: Einige Unternehmen tun sehr viel, viele wenig, manche gar nichts. Aber die Herausforderungen sind extrem unterschiedlich. Da muss viel stärker geschaut werden, wer für neue Lösungen steht und wer an der Vergangenheit festhält. Was mich positiv stimmt: dass sich inzwischen auch bei Konzernen zeigt, dass Vorstände ihre Aufgabe nicht nur darin sehen, für Anteilseigner möglichst hohe Gewinne zu erzielen, sondern sich auch als Wärter des Gemeinwohls verstehen.
Muss der Abschied von der Kohle in der Gipfelerklärung stehen?
Dass einzelne Länder versuchen, Wege aus der kohlenstoffintensiven Wirtschaft etwas zu verlängern, gehört zur Dynamik der Verhandlungen. Doch von Glasgow sollte das klare Signal ausgehen, dass Kohle auf dem Weg in die Geschichte ist. Wenn dieses Signal ausbleibt, wäre das sicher eine verpasste Chance.
Herr Steiner, vielen Dank für das Interview.
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