Afghanistan Die größten Herausforderungen stehen den Taliban erst noch bevor

Den Islamisten droht schnell ein erheblicher Vertrauensverlust auch im ihnen wohlgesonnenen Teil der Bevölkerung.
Bangkok Während Tausende seiner Landsleute aus Afghanistan fliehen wollen, ist Abdul Ghani Baradar zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt wieder in seine Heimat zurückgekehrt. Der politische Führer der Taliban, der als wahrscheinlicher nächster Staatsschef gehandelt wird, flog diese Woche aus seinem katarischen Exil nach Kandahar, der „Geburtsstadt“ der Taliban. Nach der rasanten Machtübernahme seiner Truppen, die ihn selbst überraschte, muss Baradar nun eine funktionsfähige Regierung für den Krisenstaat zimmern.
Die größten Hürden stehen den Taliban dabei aus Sicht von Beobachtern noch bevor. „In Kabul einzumarschieren war noch der einfachste Schritt“, sagt Kabir Teneja, Afghanistan-Experte an der indischen Denkfabrik Observer Research Foundation, dem Handelsblatt. „Jetzt ist entscheidend, wie sich die Taliban politisch aufstellen werden.“
Sie stehen dabei vor drei großen Problemfeldern: einer Wirtschaft am Rand des Abgrunds, einem massiven Kompetenzmangel beim Komplettumbau des Staatsapparats – und einem sich schon jetzt formierenden Widerstand gegen ihr Regime.
1. Wirtschaft: Afghanistan droht eine Finanz- und Hungerkrise
Angeschlagen war die Wirtschaft Afghanistans – eines der ärmsten Länder Asiens – schon vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul. Der internationale Druck auf die neuen Herrscher droht das Land nun in eine schwere Finanzkrise zu stürzen. Fast alle der insgesamt neun Milliarden US-Dollar schweren Währungsreserven befinden sich auf ausländischen Konten, die inzwischen eingefroren sind.
Auch der Internationale Währungsfonds schließt das Taliban-Regime von seinen Ressourcen aus. Das betrifft unter anderem die für Montag geplante Zuteilung von Sonderziehungsrechten mit einem Volumen von rund 400 Millionen US-Dollar – und den Zugang zu einem 370-Millionen-Dollar Kredit.
Die USA haben zudem die Belieferung Afghanistans mit Dollar-Banknoten gestoppt. Für afghanische Inhaber von Dollar-Konten ist es deshalb derzeit schwer bis unmöglich, an ihre Guthaben zu kommen, erklärte der ins Exil geflohene bisherige Zentralbankchef Ajmal Ahmady auf Twitter. Er erwartet, dass die Taliban gezwungen sein werden, Kapitalverkehrskontrollen einzuführen. Das würde zu einer Abwertung der Landeswährung führen. „Die Inflation wird zunehmen, und es wird besonders die Armen treffen, wenn die Lebensmittelpreise steigen.“
Afghaninnen warnen vor den Taliban nach Machtübernahme in Kabul
Sollte es den Taliban nicht gelingen, eine Lösung zu finden, droht den Islamisten ein erheblicher Vertrauensverlust auch im ihnen wohlgesonnenen Teil der Bevölkerung. Lokale Medien berichten schon jetzt von Forderungen an die neuen Herrscher, Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln und Speiseöl in den Griff zu bekommen.
Fast die Hälfte aller Afghanen lebt derzeit unterhalb der nationalen Armutsgrenze von 1,90 Dollar pro Tag. Die Nichtregierungsorganisation Save the Children warnt vor einer ernsten Hungerkrise. Schon jetzt geht sie davon aus, dass die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren in diesem Jahr unter Mangelernährung leiden wird.
Das zu erwartende Ausbleiben vieler Entwicklungsgelder, die zuletzt mehr als die Hälfte des Staatshaushalts ausmachten, dürfte die sozialen Probleme noch weiter verschärfen. Es wird den Taliban schwerfallen, rasch alternative Geldquellen aufzutreiben: „Die Taliban haben militärisch gewonnen“, kommentierte Zentralbanker Ahmady. „Jetzt müssen sie regieren. Das ist nicht einfach.“
2. Personal: Mit Kämpfern ist kein Staat zu machen
Die Taliban haben am Donnerstag ihre Beratungen über die Bildung der nächsten Regierung fortgesetzt – klare Ergebnisse konnten sie noch nicht vorlegen. Klar ist: Demokratisch soll Afghanistan nach dem Willen der Islamisten nicht mehr sein.
Möglich ist, dass ein Rat gebildet wird, der sich um die konkrete Regierungsarbeit kümmert, wie ein führender Taliban-Vertreter der Nachrichtenagentur Reuters sagte. Der höchste Talibanführer Haibatullah Akhundzada, der sich höchst selten in der Öffentlichkeit blicken lässt, könnte dabei im Hintergrund weiter über die oberste Entscheidungsgewalt verfügen.
Doch wer die Ministerämter, Behördenleitungen und andere wichtige Beamtenposten bekleiden soll, die für den Aufbau eines neuen Staatsapparats nötig sind, ist noch völlig offen. Der Kreis an kompetenten Kräften ist bei den Islamisten ausgesprochen klein: „Es gibt eine Gruppe von 15 bis 20 Taliban-Vertreter, die ihre Pässe voller Stempel haben, Englisch sprechen und über Jahre mit Diplomaten verhandelt haben“, kommentiert Rudra Chaudhuri, Direktor der Denkfabrik Carnegie India. „Aber abgesehen von dieser kleinen Gruppe haben die Taliban keinen Grundstock an erfahrenen öffentlichen Verwaltern.“
Martine van Bijlert, Mitgründerin des Afghanistan Analysts Networks, sieht das ähnlich: „Die Taliban sind nicht ganz so unvorbereitet, wie sie es in den 1990er-Jahren waren – auf der lokalen Ebene konnten sie bestimmte Verwaltungsaufgaben bereits üben“, kommentiert sie. „Sie betreten jetzt aber dennoch Neuland: Der Wandel von einer Kriegstruppe, die ihre Ziele unter anderem mit Terror verfolgte, zu einer Regierung, die zur Rechenschaft gezogen wird und abweichende Meinungen aushalten muss, wird nicht einfach sein.“
Chaudhuri verweist auf einen von den Taliban eingesetzten Bürgermeister, der früher für die Munitionsversorgung der Kämpfer zuständig war – nicht gerade die beste Qualifikation für eine kommunale Führungskraft. Die Islamisten werden seiner Meinung nach deshalb darauf angewiesen sein, mit Teilen der bisherigen Verwaltung zusammenzuarbeiten.
Doch die meisten Beamten sind auf der Flucht oder untergetaucht – sie trauen der von den Taliban versprochenen Amnestie nicht. Aktuell suchen die Taliban bereits händeringend nach Piloten: Sie haben zwar zahlreiche Flugzeuge erbeutet – haben aber so gut wie niemanden, der sie fliegen kann.
3. Proteste: Die Taliban stoßen auf Widerstand
An diesem Donnerstag begeht Afghanistan seinen 102. Unabhängigkeitstag. Die schwarz-rot-grüne Landesflagge ist an dem Nationalfeiertag zum Symbol des Widerstands geworden. Die Farben der alten Republik sind bei den Taliban verpönt.
Wenn es nach ihnen geht, darf über der Neuauflage ihres islamischen Emirats nur die weiße Fahne mit dem islamischen Glaubensbekenntnis wehen. Dennoch gingen am Donnerstag Taliban-Gegner in Kabul mit der bisherigen afghanischen Flagge zu Kundgebungen auf die Straße.

Die afghanische Flagge wird von den neuen Herrschern nicht geduldet.
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Bereits am Vortag war es in Dschalalabad zu einem ähnlichen Protestmarsch gekommen. Die Taliban schlugen ihn gewaltsam nieder. Mehrere Menschen wurden Medienberichten zufolge getötet und verletzt.
Das brutale Vorgehen der Kämpfer zeigt, wie wenig Verlass auf das Versprechen der neuen Herrscher ist, Menschenleben zu verschonen. Ihrem Ringen um Legitimität im In- und Ausland ist das harte Vorgehen nicht gerade zuträglich.
Es sind aber nicht nur Straßenproteste, die die Taliban nervös machen dürften: Im Pandschir-Tal, der einzigen Region, die von der Islamistengruppe bisher nicht eingenommen wurde, formiert sich auch militärischer Widerstand.
Soldaten, ranghohe Offiziere und Vertreter der bisherigen Regierung haben sich in der Gegend 100 Kilometer nordöstlich von Kabul versammelt und geloben, den Kampf gegen die Taliban fortzusetzen. Einer von ihnen ist der bisherige Vizepräsident Amrullah Saleh, der sich nach der Flucht von Präsident Aschraf Ghani nun als legitimes Staatsoberhaupt sieht. „Wir haben unseren Mut nicht verloren“, schrieb er vor wenigen Tagen auf Twitter und forderte seine Landsleute auf: „Schließt euch dem Widerstand an.“
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Wirklich toll wie wir uns jetzt schon mit den Problemen der Taliban befassen anstatt uns um die Probleme Deutschland zu kümmern.