Afghanistan Flucht vor den Taliban: EU ringt um Aufnahme von Schutzbedürftigen

In den europäischen Staaten ist die Bereitschaft sehr unterschiedlich, Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen.
Brüssel Die EU will schutzbedürftigen Afghanen in Europa eine neue Heimat geben - doch für wie viele Menschen das Hilfsangebot gilt, bleibt offen. „Ich fordere die EU-Mitgliedstaaten auf, ihre Kontingente für Umsiedlungen zu erhöhen, insbesondere für Afghanen“, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson dem Handelsblatt. „Ich denke, es ist wichtig, dass Europa Solidarität zeigt und denjenigen Schutz gewährt, die ihn unmittelbar benötigen.“ Bei Umsiedlungen oder auch Resettlements wird Flüchtlingen angeboten, sich dauerhaft in einem anderen Land niederzulassen.
Johansson verwies auf die USA, Kanada und Großbritannien, die jeweils mehrere Zehntausend Menschen aufnehmen wollten. „Natürlich sollte sich Europa daran beteiligen oder mehr tun“, sagte sie. Wie viele Menschen genau auf diesem Weg nach Europa kommen werden, ist noch nicht entschieden.
Luxemburgs Ministerpräsident Jean Asselborn schlug eine Größenordnung von 40.000 bis 50.000 Menschen vor. Das ist aber hochumstritten. Letztlich müssen die Mitgliedstaaten einzeln sagen, wie viele sie aufnehmen würden. Die EU kann die Staaten nicht dazu verpflichten. Der Widerstand in Osteuropa lässt vermuten, dass eine einheitliche Linie unter den EU-Staaten auch in den kommenden Wochen nicht zustande kommen wird.
Wie viele Menschen besonders schutzbedürftig sind, hänge von der Lage in Afghanistan ab, erklärte Johansson. „Wir hoffen auf eine Entwicklung, die nicht viele weitere Menschen in unmittelbare Gefahr bringt.“
Mit den Folgen der Krise in Afghanistan beschäftigte sich am Dienstag ein Sondergipfel der EU-Innenminister in Brüssel. Am Abend verständigten sich die Mitgliedsstaaten auf eine Abschiedserklärung, die allerdings hinter den Vorstellungen der Kommission zurückbleibt. Der Ton ist eher abweisend. „Anreize zur illegalen Migration sollten vermieden werden“, heißt es darin.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte zwar, dass Deutschland neben Afghanen, die für die Bundeswehr oder deutsche Entwicklungshelfer gearbeitet haben, auch andere Schutzbedürftige aufnehmen wolle. Als Beispiel nannte er Menschenrechtlerinnen. Auf eine konkrete Zahl will sich aber auch die Bundesregierung nicht festlegen.
Sorge vor dem Erstarken der AfD
„Ich halte es nicht für sehr klug, wenn wir jetzt hier über Zahlen reden“, sagte Seehofer. Er fürchtet, damit noch mehr Menschen das Signal zu geben, ihr Land zu verlassen. „Das wollen wir nicht“, stellte er klar.
In Berlin ist die Sorge groß, dass die Flüchtlingsdiskussion in der Schlussphase der Wahlkampfs der rechtsextremen AfD Auftrieb gibt. Aus den Ängsten, die die Flüchtlingskrise von 2015 ausgelöst hat, bezieht die Partei bis heute ihre Kraft. Auch deshalb hält sich die Bundesregierung mit Aufnahmeversprechen zurück, dringt gleichzeitig jedoch darauf, dass das Thema rasch abgeräumt wird.
Das Scheitern der westlichen Afghanistanmission sei ein „Desaster“, sagte Seehofer, deshalb müsse alles getan werden, damit die westliche Welt nicht erneut scheitere. Europa müsse „schnell und geschlossen handeln“.

Die Kommissarin verweist auf Kanada und Großbritannien, die jeweils zehntausende Menschen aufnehmen wollen.
Doch die alten Frontlinien sind mit dem barschen Nein der Osteuropäer, dem sich auch Österreich angeschlossen hat, wieder aufgebrochen. Aus Frust über die Weigerungshaltung drohte der luxemburgische Europaminister Asselborn am Dienstag sogar zwischenzeitig damit, die EU-Erklärung zu Afghanistan zu blockieren.
Da klingt es fast schon verbittert, wenn Seehofer betont, dass er weiter für eine gemeinsame europäische Asylpolitik kämpfe, an der sich alle Länder beteiligten. Die Eckpunkte für einen Kompromiss stehen längst, Seehofer rief sie in Brüssel noch einmal ins Gedächtnis: stärker in den Herkunftsländern helfen, die EU-Außengrenzen schützen, aussichtslose Bewerber umgehend zurückschicken und Asylberechtigte fair unter den EU-Staaten verteilen.
Auch Johansson stellte klar, es müsse verhindert werden, dass Menschen von Schleusern in Richtung der europäischen Außengrenzen gebracht würden. Dann kämen erfahrungsgemäß 90 Prozent Männer, viele der Schutzbedürftigen seien aber Frauen und Mädchen.
Europa solle wegen der Flüchtlinge nicht in Panik geraten. „Wir können das schaffen. Und wir können eine Situation wie im Jahr 2015 vermeiden, wenn wir zusammenarbeiten“, versicherte Johansson. „Es ist wichtig, dass wir nicht warten, bis die Migranten an unseren Außengrenzen sind. Wir müssen unsere Arbeit jetzt tun. Wir müssen den Menschen in den Ländern der Region, aber auch in Afghanistan selbst, helfen.“
Aktionsplan für die Nachbarstaaten Afghanistans
Die EU wird auch hierbei eine Schlüsselrolle spielen. Die Kommission erarbeitet derzeit einen Aktionsplan, der großzügige Hilfen für Nachbarländer Afghanistans vorsieht, wenn diese zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit sind.
Das Modell ähnelt dem Pakt, den die EU 2016 mit der Türkei zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien geschlossen hatte. Wie die „Financial Times“ berichtet, sei dafür ein 600-Millionen-Euro-Paket vorgesehen. Die Mitgliedsstaaten unterstützen diesen Ansatz. In ihrer Gipfelerklärung heben sie die Notwendigkeit, die Kapazitäten für die Versorgung von Flüchtlingen in den Anrainerstaaten Afghanistans zu verbessern, besonders hervor.
Hilfen aus Europa waren auch Thema der Gespräche, die Außenminister Heiko Maas (SPD) zuletzt in der Region führte, am Mittwoch in Pakistan. Deutschland will unabhängig von möglichen EU-Angeboten 500 Millionen Euro an humanitärer Hilfe für Afghanistan und die Nachbarstaaten bereitstellen.
Das Geld soll auch die Taliban dazu bewegen, schutzsuchende Menschen weiter ausreisen zu lassen. Erste Zusicherungen der Taliban gibt es, doch die Bundesregierung bleibt vorsichtig: „Ob man sich darauf verlassen kann, wird man, glaube ich, erst in den kommenden Tagen und auch Wochen sehen“, sagte Maas.
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