Afghanistan Taliban erobern Stadt Masar-i-Scharif – Bundeswehr bereitet großen Evakuierungseinsatz in Kabul vor

Die Taliban rücken immer weiter vor.
Kabul, Washington Die Taliban haben nach Angaben eines Vertreters der Provinz die Stadt Masar-i-Scharif eingenommen. Anscheinend sei die Stadt kampflos gefallen, sagt der Vorsitzende des örtlichen Provinzrats, Afsal Hadid. Soldaten der Regierung seien in Richtung der Grenze zu Usbekistan geflohen.
In einem Feldlager am Rande der Stadt hatte die deutsche Bundeswehr bis zu ihrem Abzug im Juni ihr Hauptquartier für den Afghanistan-Einsatz. Die Islamisten hatten seit rund einer Woche Masar-i-Scharif intensiv angegriffen. Immer wieder versuchten sie von mehreren Seiten, in die auch wirtschaftlich starke Metropole mit geschätzt 500.000 Einwohnern einzudringen.
Damit rücken die Islamisten weiter auf die afghanische Hauptstadt Kabul vor. Am Samstagmorgen habe es Gefechte um Maidan Schar gegeben, Hauptstadt der rund 35 Kilometer von Kabul gelegenen Provinz Maidan Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der Deutschen Presse-Agentur. Die Taliban beherrschten bereits einen Großteil der Bezirke in der Provinz.
Zudem eroberten die Islamisten auch die rund 70 Kilometer von Kabul entfernte Stadt Pul-e-Alam, wie ein Mitglied des örtlichen Provinzrats mitteilt. Dabei seien sie auf keinen großen Widerstand gestoßen. Pul-e-Alam könnte eine strategisch wichtige Stellung für einen möglichen Angriff auf Kabul sein. Mittlerweile haben die Islamisten 20 der 34 Provinzhauptstädte des Landes übernommen.
Afghanistans Präsident Aschraf Ghani berät derweil mit führenden Regionalvertretern und internationalen Partnern über die Lage in seinem Land. „Als Ihr Präsident liegt mein Fokus darauf, weitere Instabilität, Gewalt und Vertreibung meines Volks zu verhindern“, sagt er in einer kurzen Fernsehansprache.
Priorität habe die „Reintegration der Sicherheits- und Verteidigungskräfte“. In dieser Hinsicht würden „ernsthafte Maßnahmen“ unternommen. Auf Rücktrittsforderungen der islamistischen Taliban als Voraussetzung für Gespräche über eine Waffenruhe und eine politische Lösung geht Ghani nicht ein.
Bundeswehr bereitet Evakuierung von deutschen Staatsbürgern und Ortskräften vor
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat mit einem Teil ihres Kabinetts das weitere Vorgehen in einer Krisensitzung erörtert. „Es wurde beraten, wie mit Hilfe der Bundeswehr die schnellstmögliche Rückholung von Mitarbeitern der deutschen Botschaft und in Afghanistan tätiger deutscher Organisationen sowie von afghanischen Ortskräften gewährleistet werden kann“, teilte ein Regierungssprecher am Samstag auf Anfrage mit. „Eine Beteiligung des Deutschen Bundestags an einer solchen Entscheidung wird erfolgen“, versichert er.
Die Kanzlerin beriet sich den Angaben zufolge mit Vizekanzler Olaf Scholz und Außenminister Heiko Maas (beide SPD) sowie mit Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), Innenminister Horst Seehofer (CSU), Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) und einem Vertreter des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Die Bundeswehr hat bereits mit Vorbereitungen für einen stark abgesicherten Einsatz zur Evakuierung von deutschen Staatsbürgern und Ortskräften aus Afghanistan begonnen. Dazu wird nach Angaben der Deutschen Presse-Agentur ein vom Bundestag zu verabschiedendes Mandat vorbereitet. Zum Einsatz sollen in der kommenden Woche vor allem Fallschirmjäger der Division Schnelle Kräfte (DSK) kommen, die die Bundeswehr als Teil der Nationalen Risiko- und Krisenvorsorge für solche Aufgaben bereithält.
In Afghanistan sind derzeit mehr als 100 Deutsche, darunter Diplomaten und Mitarbeiter der Botschaft in Kabul sowie Experten anderer Ministerien und Organisationen. Auch Organisationen aus dem Geschäftsbereich des Bundesentwicklungsministeriums haben derzeit noch mehr als 1000 einheimische Mitarbeiter in Afghanistan.
Ein Evakuierungseinsatz gilt als mandatierungspflichtig, weil eine Basis für das bisherige Mandat nach dem Ende des Nato-Einatzes „Resolute Support“ als nicht mehr gegeben gilt. Dass es zu diesem Einsatz kommen muss, ist weitgehend unstrittig.
Auch CDU-Chef Armin Laschet fordert, dass Deutschland die ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr rettet. „Diese Leute, die uns geholfen haben, Afghanen, die mutig waren, der Bundeswehr zu helfen, müssen jetzt rausgeholt werden“, sagte er auf einer Veranstaltung der Jungen Union im hessischen Gießen am Samstag.
Auch USA beginnen mit Evakuierung
In der afghanischen Hauptstadt Kabul sind derweil die ersten US-Soldaten eingetroffen, die ebenfalls Evakuierungen sichern sollen. Bis Sonntag würden weitere Truppen eintreffen, sagt ein US-Vertreter.
Das US-Außenministerium hatte zuvor angekündigt, dass die Verstärkung für die US-Truppen in Afghanistan von rund 3000 Soldaten bis Sonntag größtenteils in Kabul sein werde. Sie sollen Personal der US-Botschaft und frühere afghanische Mitarbeiter der US-Behörden und des Militärs außer Landes bringen.
Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, betonte am Freitag, die US-Streitkräfte könnten täglich Tausende Menschen aus Kabul evakuieren. Die Kapazität für den Lufttransport sei „kein Problem“, sagte Kirby.
Zudem verlegen die USA nun bis zu 4000 weitere Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait und rund 1000 nach Katar. Der Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan solle weiterhin bis 31. August abgeschlossen werden, hieß es.
Deutschland will Botschaftspersonal auf das „absolute Minimum“ reduzieren
Der britische Premier Boris Johnson sagte, Mitarbeiter der britischen Botschaft sollten Kabul binnen Tagen verlassen. Auch Deutschland will laut Außenminister Heiko Maas das Botschaftspersonal auf das „absolute Minimum“ reduzieren. Mit zwei Flugzeugen sollen Personal und auch Ortskräfte ausgeflogen werden.
Wie zuvor Außenminister Maas sagte Innenminister Horst Seehofer (CSU), dass die Identitätsfeststellung und die Vergabe von Visa notfalls auch in Deutschland erfolgen könnte. „Wir sind für jedes Verfahren offen. Am Bundesinnenministerium scheitert keine Einreise von Ortskräften“, sagte Seehofer der „Süddeutschen Zeitung“ (Samstag). Grünen-Chef Robert Habeck forderte, hier müssten auch Menschen aus Afghanistan einbezogen werden, die über Firmen, also nicht direkt für die Bundeswehr oder andere deutsche Institutionen gearbeitet haben.
Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hat indes vor einer Wiederholung von Versäumnissen während des syrischen Bürgerkriegs gewarnt. Die europäischen Länder seien damals auf fatale Weise unvorbereitet gewesen, dass Menschen in so einer dramatischen Situation ihr Land verlassen müssten, sagte Baerbock in einem Interview des Deutschlandfunk.
Man dürfe nicht warten, bis alle 27 EU-Länder zur Aufnahmen von Flüchtlingen bereit seien. Vielmehr müsse man sich mit den europäischen Ländern zusammenschließen, die dazu bereit seien. Auch mit den USA und Kanada müsse man sich abstimmen. Gemeinsam müssten klare Kontingentregeln vereinbart werden.
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, rechnet mit einem wachsenden Flüchtlingsdruck auf die EU und Deutschland. Der SPD-Politiker verwies in der „Rheinischen Post“ (Samstag) darauf, dass es am Hindukusch rund 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge gebe. Der Druck werde nicht nur weiter „massiv“ auf die Türkei, Iran und Pakistan steigen.
UN-Generalsekretär Guterres: „Afghanistan gerät außer Kontrolle“
Kanada will mehr als 20.000 gefährdete Afghanen aufnehmen, um sie vor den Taliban zu schützen. Dazu zählten unter anderen Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und weibliche Führungskräfte, teilt Marco Mendicino, Minister für Einwanderung, Flüchtlinge und Staatsbürgerschaft, mit.
Diese Personen würden zusätzlich aufgenommen. Die Regierung in Ottawa hat bereits Dolmetschern, die für Kanada gearbeitet haben und Botschaftsmitarbeitern in Afghanistan zugesagt, sie vor der Rache der Taliban zu schützen und ins Land zu lassen.
UN-Generalsekretär António Guterres forderte die Taliban zur sofortigen Einstellung ihres gewaltsamen Vormarsches in Afghanistan auf. „Die Macht durch militärische Gewalt an sich zu reißen, ist ein zum Scheitern verurteiltes Vorgehen“, sagte Guterres in New York.
„Es kann nur zu einem verlängerten Bürgerkrieg oder der kompletten Isolation von Afghanistan führen.“ Er hoffe auf eine mit allen Parteien verhandelte Einigung zur Beendigung des Konfliktes. Die Situation bereite ihm große Sorge, sagte Guterres. „Afghanistan gerät außer Kontrolle.“
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