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Joe Biden

Rund 100 Tage im Amt.

(Foto: AP)

Analyse 100 Tage Amtszeit Joe Biden: Egoismus in neuem Gewand

Unter dem neuen Präsidenten ist das Weiße Haus wieder ein Hort von Verlässlichkeit, das Tempo der Reformen ist beeindruckend. Doch an der „America first“-Doktrin hat sich nichts geändert.
28.04.2021 - 19:39 Uhr 2 Kommentare

Washington Die meterhohen Metallzäune in Washington sind noch immer da, fast vier Monate nach dem Sturm fanatischer Trump-Anhänger auf den Kongress. Man gewöhnt sich überraschend schnell an den Anblick. Wirkten die Zäune und Soldaten zu Beginn bedrohlich, haben sie zunehmend etwas Beruhigendes an sich. Alles unter Kontrolle, ist das Signal. Sollte Washington erneut attackiert werden, ist man wenigstens vorbereitet.

Eigentlich müsste die physische Distanz zwischen Bürgern und Institutionen deprimieren, aber irgendwie passt sie zur Stimmung im Land. Wo früher Angestellte ihre Mittagspause machten und Touristen fotografierten, blühen jetzt Blumenbeete hinter Gittern. Die politische Debatte ist gelassener geworden, zumindest bis zum nächsten Wahlkampf.

Das mag auch daran liegen, dass sich US-Präsident Joe Biden als Person in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit extrem zurückgenommen hat. Sein Verhalten ist ein krasser Kontrast zu dem Donald Trumps, der vier Jahre lang auf allen Kanälen sendete und seine Impulse ungefiltert vor der ganzen Welt entblößte.

Bidens Rede am Mittwochabend deutscher Zeit im US-Kongress ist einer der seltenen Momente, in denen er sich über eine direkte Ansprache ausführlich erklärt. Mitreißende Rhetorik war noch nie seine Stärke, und selbst auf dem Gipfel seiner Karriere versucht Biden erst gar nicht, diesen Eindruck zu zerstreuen. Jetzt, da die Pandemie große öffentliche Bühnenpräsenz ohnehin erschwert, wird aus Bidens vermeintlicher Schwäche ein Vorteil. Er bietet seinen Gegnern kaum Angriffsfläche durch öffentliche Auftritte.

In den USA, wo Präsidenten nicht nur Truppen befehlen, sondern zu Stars der Popkultur werden, vollzieht sich gerade ein interessanter Wandel im Rollenverständnis: Barack Obama euphorisierte durch sein Charisma Millionen, Donald Trumps Populismus und Egozentrik tränkten das Land in Wut. In beiden Fällen war Wirkung oft von der Persönlichkeit des Präsidenten geprägt. Biden hingegen lässt politische Ziele und Reformvorhaben sprechen. Er zeigt damit, dass nicht zwingend am meisten bewegt, wer am lautesten brüllt.

Doch das bedeutet nicht, dass sich Biden auch in der Sache zügelt. Ausgerechnet der älteste US-Präsident aller Zeiten, der seit einem halben Jahrhundert Politik macht, legt im Amt einen Paradigmenwechsel nach dem nächsten hin: in der Wirtschaft, sozialpolitisch und kulturell. Dabei galt Biden noch im Wahlkampf als Konsenskandidat, der mit 78 Jahren nicht gerade für Aufbruch, sondern für die Vergangenheit der Demokraten stand. Biden hatte einen Ruf als Zentrist, als Vermittler zwischen den Lagern, dem Überparteilichkeit wichtiger sei als ein politisches Wagnis. All das mag in seiner Karriere als Senator und Vizepräsident gestimmt haben, doch seit er im Oval Office sitzt, legt er nahezu revolutionäre Absichten an den Tag.

Biden leitet politischen Kulturwandel ein

Was er abseits des Ringens um Gesetze schon jetzt erreicht hat, ist ein politischer Kulturwandel, der die USA langfristig prägen könnte. Vertraute des Weißen Hauses erzählen, dass Biden auffällig viel delegiert und führenden Beratern freie Hand lässt. Vielleicht rechnet der Demokrat im Stillen mit nur einer Amtszeit, vielleicht erfordern es die multiplen Krisen schlichtweg, die Verantwortung zu teilen.

Der Titel „Madam Vice President“ ist nun normal Quelle: Reuters
Kamala Harris

Der Titel „Madam Vice President“ ist nun normal

(Foto: Reuters)

So oder so tut es der Führung des Landes gut, dass sie neuerdings viele und diverse Aushängeschilder hat. Zum ersten Mal haben die USA eine Vizepräsidentin, der Titel „Madam Vice President“ ist nun normal. Graffiti in den Metropolen der Nation stilisieren Kamala Harris zur Kunst- und Kultfigur, und am Flughafen kann man T-Shirts mit dem Aufdruck „I’m speaking“ kaufen - der Spruch, mit dem Harris im Kandidaten-Duell ihren Konkurrenten Mike Pence zum Schweigen brachte. Die Macht einer schwarzen Frau ist im kollektiven Gedächtnis angekommen.

Es ist zugleich normal geworden, dass das Land mit Harris' Ehemann Doug Emhoff einen „Second Gentleman“ hat und dass Pressekonferenzen in Gebärdensprache übertragen werden. Es ist normal, dass First Lady Jill Biden ihren Job als Uni-Dozentin weiterführt und dass Präsident und Vizepräsidentin in Patchworkfamilien leben. Gesellschaftlicher Wandel kommt in der Regel erst mit Verzögerung ganz oben an. Das Duo Biden/Harris hat ihn bereits jetzt beschleunigt.

Wir haben durch Trump vergessen, wie sich Routine anfühlt

Plötzlich ist das Weiße Haus wieder ein vergleichsweise normaler Arbeitsplatz, auch das hat sich verändert. Trump hatte nach 100 Tagen bereits eine ganze Reihe von Mitarbeitern gefeuert und eine Russland-Affäre am Hals. Bidens Skandälchen beschränken sich darauf, dass sein Peloton-Fitnessrad von Cyberspionen gehackt werden könnte und sich die Adoption der präsidialen Katze verzögert.

Joe Biden ließ sich schon vor seinem Amtsantritt am 20. Januar gegen Covid-19 impfen - und brachte anschließend Schwung in die Impfkampagne. Quelle: dpa
Joe Biden

Joe Biden ließ sich schon vor seinem Amtsantritt am 20. Januar gegen Covid-19 impfen - und brachte anschließend Schwung in die Impfkampagne.

(Foto: dpa)

Es gibt eine klare Kommunikation nach außen und einen wöchentlichen Arbeitsplan, der nicht per Tweet über den Haufen geworfen wird. Das Weiße Haus unter Biden ist eine disziplinierte Regierungsmaschine, in der ein spontaner Spaziergang des „First Couple“ auf der Südwiese vor dem Regierungssitz Reporter schon in Aufregung versetzt. Beobachter, die den Apparat lange kennen, wissen zu erzählen: Das ist eigentlich der Standard, wir haben durch Trump nur vergessen, wie sich politische Routine anfühlt.

Dass sich die USA wieder an Selbstverständlichkeiten gewöhnen müssen, zeigt sich im Umgang mit der Covid-Krise. Erst seit Biden im Oval Office sitzt, wird der Kampf gegen das Virus zentral aus Washington gesteuert. In der Brusttasche seines Anzugs steckt eine Karteikarte, auf der die tägliche Zahl der mittlerweile fast 600.000 Covid-Toten in den USA vermerkt ist. Es ist eine kleine, wirksame Geste, die zeigt, dass dieser Präsident die Pandemie ernst nimmt. Auch wenn Verschwörungstheorien weiter gedeihen, werden sie immerhin nicht mehr aus dem Machtzentrum genährt.

Kampf gegen Klimawandel und Ungleichheit

Doch die Lehren, die Biden aus Corona zieht, gehen weit über akutes Krisenmanagement hinaus. Seine Regierung hat Ziele ausgerufen, die deutlich ehrgeiziger, ambitionierter und in Teilen provokanter sind, als viele Beobachter vorhergesagt hatten. Bekommt Biden etwa sein rund 2,25 Billionen Dollar schweres Infrastrukturpaket durch den Kongress, wäre es das erste Mal, dass die USA den Klimawandel und grüne Innovationen in den Mittelpunkt einer Wirtschaftsreform stellen.

Und auch wenn ein solcher Vorstoß ungefähr 30 Jahre zu spät kommt, ist es doch richtig, dass die größte Industrienation mit einem ambitionierten Ziel vorangeht. Auch die vorgeschlagenen Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind alternativlos, wenn die USA mit dem Konkurrenten China mithalten wollen.

Der zweite Teil von Bidens geplanten Reformen soll die Ungleichheit abfedern. Zwar wird Biden erst noch beweisen müssen, dass sich die soziale Spaltung in den USA tatsächlich mildert, indem man die Sozialsysteme mit Geld überschüttet. Auf der anderen Seite sind frühere Ansätze, die auf einen „Trickle Down“-Effekt des insgesamt wachsenden Vermögens der US-Amerikaner setzten, spätestens in der Pandemie gescheitert: Der Wirtschaftseinbruch traf vor allem diejenigen hart, die es sich am wenigsten leisten konnten, und vom zaghaften Aufschwung scheint nur ein kleiner Teil der Bürger zu profitieren.

So haben sich zwei Millionen Frauen dauerhaft vom Arbeitsmarkt verabschiedet - auch, weil Kinderbetreuung in den USA für Geringverdiener oft unbezahlbar ist. Biden will nun mindestens zwei weitere Billionen in Kindergeld, Mutterschutz und bezahlbare Bildung investieren, die Löhne in Gesundheit, Pflege und Erziehungsberufen erhöhen.

Der Streit darum, ob und wie viel Unternehmen und Wohlhabende dafür zahlen sollen, wird die Debatte der kommenden Monate bestimmen. Es ist unklar, ob Biden seine Vorhaben in einem Kongress mit knappen Mehrheiten tatsächlich durchbringen kann, doch seine Kernbotschaft ist gesetzt: Dieser Präsident sieht Sozialreformen ganz oben auf der Liste für den Wiederaufbau.

Es ist gleichzeitig das Eingeständnis, dass die bisherigen Modelle für den Ausgleich zwischen Arm und Reich nicht mehr funktionieren. Bei alldem steht Biden unter Zeitdruck. Noch halten die Demokraten das Weiße Haus, den Senat und das Repräsentantenhaus, doch bereits im Herbst 2022 könnten die Republikaner eine oder beide Kammern zurückerobern.

Die Welt muss sich an „America first“ gewöhnen

Bidens schnelle, ehrgeizige Agenda hat Folgen für den Rest der Welt. Schon seine ersten Monate im Amt haben gezeigt, dass Trumps „America first“-Kurs kein Ausrutscher war, sondern in Teilen von Biden fortgesetzt wird. Der harte Einwanderungskurs an der Südgrenze zu Mexiko bleibt vorerst bestehen, dazu treibt Biden den Protektionismus voran.

Wegen der „Buy America“-Doktrin drohen höhere Hürden für ausländische Mitbewerber, was auch europäische Branchen trifft. Bis zu dieser Woche blockierte die US-Regierung fast alle Impfstoffexporte und überließ es China, Europa, Indien und Russland, ihre Dosen mit anderen Ländern zu teilen.

Selbst der Kampf gegen den Klimagipfel ist von nüchternem Kalkül getrieben. Offiziell geben sich die USA als Vorreiter einer neuen Bewegung gegen die Erderwärmung. Doch während Washington auf der Weltbühne an den Gemeinsinn appelliert, klingt die Debatte innerhalb der USA ganz anders. Dort schwärmen Bidens Ministerinnen und Minister aus und werben: Grüne Innovationen nutzen uns als Nation, bringen Jobs und Wohlstand in die USA.

Abschied von den USA als Weltpolizist

An diesem und anderen Beispielen sieht man: Amerika als Retter der Welt, das wird es auch unter Biden nicht mehr geben. Die USA könnten in Zukunft wieder stärker und vor allem verlässlicher führen, aber sie werden es nur dann tun, wenn sie selbst einen Vorteil davon haben. Biden begründet schon früh in seiner Amtszeit den modernen Egoismus der USA: seriös und diplomatisch in der Form, hart in der Sache. In diesem Ansatz liegt die Chance, dass Biden tatsächlich die Polarisierung im Land lindern kann. Schließlich will die Mehrheit der US-Bürger eine stärkere wirtschaftliche Abschottung nach außen, auch militärische Einsätze sind unpopulär. Doch die internationalen Partner der USA müssen sich an ein Land gewöhnen, das die eigenen Interessen klarer denn je vertritt.

Die Bundeskanzlerin schwärmte von ihrer Sehnsucht nach Jeans, von ihrer ersten Kalifornien-Reise nach dem Mauerfall. Links im Hintergrund: der damalige Vizepräsident Joe Biden. Quelle: AFP
Angela Merkel 2009 im US-Kongress

Die Bundeskanzlerin schwärmte von ihrer Sehnsucht nach Jeans, von ihrer ersten Kalifornien-Reise nach dem Mauerfall. Links im Hintergrund: der damalige Vizepräsident Joe Biden.

(Foto: AFP)

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2009 vor dem US-Kongress eine Rede hielt, erzählte sie von Westverwandten, die Filme und Bücher über Amerika einschmuggelten. Sie schwärmte von ihrer Sehnsucht nach Jeans, von ihrer ersten Kalifornien-Reise nach dem Mauerfall.

Das Land, von dem Merkel träumte, gibt es in dieser Form nicht mehr. Die USA als Leuchtturm der Freiheit und der Verantwortung für die ganze Welt sind Geschichte. Vielleicht gab es dieses Land nie, und die USA wurden zu ehrfürchtig bewundert, bis sich mit der Trump-Präsidentschaft Abgründe auftaten.

Womöglich kann Biden sein Land gerechter machen, vor vielen drängenden Problemen kapituliert aber auch er. Die Waffengewalt wird weitgehend hingenommen. Das Impfprogramm ist beeindruckend, aber Millionen Menschen verweigern die Spritze. Trumpismus und Populismus blühen, was man an wachsenden Spenden für extrem rechte Konservative sieht.

Biden zeigt der Welt, was die USA leisten können und wollen – und was nicht. Was von seiner Amtszeit bleiben wird, ist ein neues, ehrlicheres Amerika. Kein Land der Träume, sondern des Realismus.

Mehr: Die Staatsgläubigkeit nimmt bedenkliche Formen an

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2 Kommentare zu "Analyse: 100 Tage Amtszeit Joe Biden: Egoismus in neuem Gewand"

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.

  • @Frau Meiritz
    "Die USA könnten in Zukunft wieder stärker und vor allem verlässlicher führen, aber sie werden es nur dann tun, wenn sie selbst einen Vorteil davon haben."

    Haben die USA historisch betrachtet nicht stets nur gehandelt, wenn es um Ihre Interessen ging ? ... bei der eigenen Verteidigung (Eintritt in Zweiten Weltkrieg erst nach Pearl Habour, also mehr als zwei Jahre nach Beginn des Krieges), zur eigenen Versorgungssicherheit und Vormachtstellung bei Ressourcen, beim Zugang zu Märkten, bei der Verhinderung von Ausbreitung des wirtschaftlichen oder politischen Gegners, bei der Akzeptanz des US-Dollars als Leitwährung etc.
    Was wird Ihrer Meinung nach künftig anders sein ?

  • "an der „America first“-Doktrin hat sich nichts geändert." Was zu erwarten war - und auch noch nie anders war.

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