Angst vor dem Polexit Aushöhlung von Demokratie und Gewaltenteilung? Wie der Streit zwischen Polen und der EU eskaliert

Laut Umfragen sind die Polen mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU und akzeptieren den Vorrang des EU-Rechts.
Berlin, Brüssel Chaos, rechtsfreie Räume und Anarchie drohen in Polen, wenn sich das Land den Regeln der EU unterwirft – so zumindest stellt es Polens Premierminister Mateusz Morawiecki dar. Der Regierungschef hatte sich am Dienstag selbst ins Europaparlament eingeladen. Er wollte so das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichts verteidigen, wonach Polen nicht alle Teil der EU-Verträge beachten müsse.
Immer wieder sagte Morawiecki am Dienstag nun, dass die polnische Verfassung das höchste Recht der polnischen Republik sei, sich die EU mit ihren Regeln also unterordnen müsse.
Das Urteil hat andere Regierungschefs und die EU-Kommission aufgeschreckt. Sie befürchten, dass vom Rechtssystem der EU nur Chaos übrig bleibt, wenn es nicht revidiert wird. Es stelle die Basis der EU infrage, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Denn es fechte direkt die Einheitlichkeit der europäischen Rechtsordnung an.
Die polnische Regierung hatte das Verfassungsgericht angerufen, um zu klären, ob die polnische Verfassung über dem EU-Recht und den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) steht. Die der Regierungspartei PiS nahestehende Richterin lieferte, was offenbar gewünscht war.
Die Botschaft ist des polnischen Regierungschefs ist nun: Egal, was man in der EU von den Reformen in Polen hält – sie werden nicht zurückgenommen. So soll vor allem die Justizreform abgesichert werden, die der polnischen Regierung weitreichende Durchgriffsrechte auf die Gerichte gibt. Der EuGH hält das nicht für vereinbar mit den EU-Verträgen.
Von einem Ende der Gewaltenteilung in Polen ist darum die Rede, von einer Aushöhlung der Demokratie und des Rechtsstaats. In diesem Zustand könnte kein Land in die EU aufgenommen werden. Einem Land seine Rechte als EU-Mitglied wegzunehmen, ist aber ungleich schwerer, als einen Mitgliedsantrag abzulehnen.
Mehrheit der Polen für Verbleib in der EU
Morawiecki will die EU auch gar nicht verlassen. Er sieht seine Aktionen als Beitrag für ein „starkes, ambitioniertes Europa“, wie er in Straßburg sagte. Laut Umfragen sind auch die Polen mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU und akzeptieren den Vorrang des EU-Rechts.
Der Premierminister ist aber getrieben von seinem rechtspopulistischen Justizminister Zbigniew Ziobro, dem Vater der Justizreform. Dieser hat am Montag angekündigt, dass Polen vor dem EuGH die Besetzung von Richterposten in Deutschland überprüfen lassen wolle. Außerdem ist Morawiecki von seinem Parteivorsitzenden Jaroslaw Kaczynski abhängig, der es auf Wähler vom rechten Rand abgesehen hat.
Im Sinne dieser beiden politischen Freunde argumentierte Morawieckis am Dienstag, das auch in anderen Ländern Gerichte den Vorrang des EU-Rechts nicht eindeutig akzeptieren.
Von der Leyen sendet harte Drohungen
Von der Leyen will diese Argumentation nicht gelten lassen. Sie will die milliardenschwere Corona-Hilfen solange blockieren, bis das Land bestimmte Justizreformen zurückgenommen hat. Die Unabhängigkeit der Justiz müsse wiederhergestellt werden, sagte von der Leyen in der Debatte mit Morawiecki.
„Dazu zählt der Abbau der Disziplinarkammer, der Abbau des Disziplinarregimes, die Wiedereinsetzung der unrechtmäßig entlassenen Richterinnen und Richter. Das ist die Grundvoraussetzung.“ Morawiecki habe dies angekündigt, sagte von der Leyen, und forderte: „Tun Sie es.“

Ursula von der Leyen droht mit einer Blockade der Corona-Hilfen.
Nach gut vier Stunden zeigte sich von der Leyen entschlossen: „Wir werden die Rechtsstaatlichkeit und die Verträge der Europäischen Union verteidigen, mit allen Mitteln.“ Die EU-Kommission werde jedoch klare Prozessschritte einhalten. „Ja, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit sind langsamer als die Autokratien, weil sie alle anhören, bevor ein Urteil gefällt wird oder eine Lösung gefunden wird. Aber genau das unterscheidet uns ja von den Autokraten und den Diktatoren dieser Welt.“
Morawiecki beruft sich auf Urteil vom Bundesverfassungsgericht
Tatsächlich ist die Diskussion unter Juristen dazu kompliziert. Zwar hat das EU-Recht „Anwendungsvorrang“ vor nationalem Recht, und auch das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten steht nicht per se über dem europäischen Recht.
„Aber es ist auch nicht so, dass Unionsrecht immer über nationalem Verfassungsrecht steht, wie Ursula von der Leyen behauptet“, sagt der Europarechtler Dirk Uwer. „Die EU hat nur insoweit das letzte Wort, wie ihr die Mitgliedstaaten Kompetenzen eingeräumt haben. Die juristische Diskussion ist hier zu Recht sehr differenziert.“

Der Premier will nicht aus der EU austreten. Sich dem EU-Recht unterwerfen will er aber auch nicht.
Morawiecki zitierte im Europaparlament eine Reihe von Urteilen, laut denen weiterhin nationales Recht beachtet werden muss. Darunter auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom Mai 2020.
Das Gericht hatte sich damit über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gestellt, der über das EZB-Anleihekaufprogramm entschieden hatte. Laut Morawiecki ist dies ein Beispiel dafür, dass nationale Verfassungsgerichte die Politik der EU kontrollieren dürfen und nur Polen ungerecht behandelt werde.
Gerade an diesem Urteil lässt sich laut der ehemaligen deutschen Justizministerin Katarina Barley aber das Gegenteil belegen: Erstens habe das BVerfG ja gegen die deutsche Bundesregierung entschieden. Das Urteil sei also ein Beleg für die funktionierende Gewaltenteilung, während in Polen das Gericht Urteile so liefert, wie sie von der Regierung bestellt würden, sagte die heutige SPD-Europaabgeordnete.
Und zweitens komme Deutschland mit diesem Urteil eben nicht einfach davon, sondern müsse sich jetzt einem Vertragsverletzungsverfahren stellen. Natürlich sei das jetzt auch bei Polen notwendig. Daneben gibt es ganze fünf weitere, parallel verlaufende Prozesse, bei denen Polen und die EU auf Kollisionskurs sind.
Das Bundesjustizministerium hat auch die polnische Kritik an der Nominierung deutscher Verfassungsrichter zurückgewiesen. „Die Europäische Kommission hat am 20. Juli 2021 den zweiten Rechtsstaatsbericht vorgelegt“, sagte eine Sprecherin auf Anfrage. „Der deutschen Justiz wurde dabei erneut ein gutes Zeugnis ausgestellt. Die Kommission hat insbesondere das System der Wahlen von Richterinnen und Richtern zu den obersten Bundesgerichten nicht beanstandet.“
Die Prozesse in der Übersicht
- Seit Ende 2017 läuft ein Artikel-7-Verfahren wegen der Justizreform gegen Polen, das theoretisch zu einem Entzug des Stimmrechts im EU-Rat führen kann. Das ist das Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU. Allerdings weigern sich die EU-Staaten, das Verfahren im Rat weiterzutreiben. Der Fraktionschef der Konservativen im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), drohte am Dienstag deswegen mit einer Untätigkeitsklage gegen den Rat.
- Der EuGH hat bereits geurteilt, dass die in der Justizreform eingeführte „Disziplinarkammer“ gegen europäisches Recht verstößt. Die Kommission hat in dieser Sache kürzlich Strafzahlungen beantragt, die aber noch nicht vom EuGH bestätigt sind.
- Bestätigt sind Strafzahlungen bereits im Streit um den Kohletagebau Turow. Polen muss täglich eine halbe Million Euro zahlen, tut das bislang aber nicht. Die Kommission könnte beschließen, die Zahlungen mit EU-Geldern für Polen zu verrechnen.
- Außerdem treiben die Parlamentarier die EU-Kommission an, ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen einzuleiten. Dieses Verfahren gibt es seit Januar dieses Jahres, wurde aber noch nie angewandt. Die EU kann auf diesem Weg relativ schnell Gelder einfrieren. Am Wochenende warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel davor, solche Verfahren zu schnell einzuleiten, und warb stattdessen für weitere Gespräche. Die sollen nun beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag geführt werden.
- Eskalieren dürfte darum als Erstes der Streit um den Corona-Wiederaufbaufonds. Für diesen Fonds haben die EU-Staaten gemeinsam Geld an den Finanzmärkten geliehen. Polen soll in besonderer Weise davon profitieren. Die beantragten 36 Milliarden Euro würden sechs Jahre das BIP um 1,2 Prozent erhöhen, weitere Wachstumseffekte nicht eingerechnet. Die EU-Kommission muss das Geld aber nicht auszahlen, wenn sie erwarten muss, dass die Verwendung in Polen nicht verlässlich kontrolliert wird. Und dazu hat sie jetzt allen Anlass.
Witold Orlowski von der Weichsel-Akademie für Finanzen und Wirtschaft warnt seine Regierung vor der Konfrontation: „Wir brauchen dieses Geld dringend, um das Investitionsniveau wieder aufzubauen, das so niedrig wie seit 30 Jahren nicht mehr ist.“ Sollte dies nicht geschehen, „werden wir in zwei, drei Jahren eine desaströse konsumorientierte Wirtschaftsstruktur haben“. Längerfristig würde Polen in Bezug auf den Wohlstand „das Schlusslicht in der EU“ werden.
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